Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
sie mit Daumen und Zeigefinger die Höhe der Absätze anzeigte.
»Wunderschön waren die.«
Alices Vater stöhnte und setzte sich anders hin, als gehe ihm dieses Gespräch furchtbar auf die Nerven. Alice stellte sich Sols Ehemann vor, wie er mit einer Schuhschachtel unter dem Arm aus dem Geschäft kam. Sie kannte ihn von dem Foto, das, mit einem getrockneten Olivenzweig zwischen Nagel und Haken, in einem Rahmen über dem Kopfende von Soledads Bett hing.
Nur einen kurzen Moment hatte diese Vorstellung Alice abgelenkt, dann kehrten ihre Gedanken wieder zu Mattia zurück. Es war jetzt schon eine Woche her, und er hatte noch nicht wieder angerufen.
Dann fahr ich jetzt zu ihm, dachte sie.
Sie steckte sich eine Gabel Salat in den Mund, als wolle sie ihrem Vater sagen: Siehst du, ich habe gegessen. Der Essig brannte ein wenig auf ihren Lippen. Noch während sie kauten, erhob sie sich vom Tisch.
»Ich muss noch mal weg«, sagte sie.
Überrascht zog ihr Vater eine Augenbraue hoch.
»Darf man fragen, wohin noch so spät?«
»Einfach raus hier«, antwortete Alice in provozierendem Ton, fügte aber etwas freundlicher hinzu: »Zu einer Freundin.«
Ihr Vater schüttelte den Kopf, wie um zu sagen: Ach, mach doch, was du willst. Und einen Moment lang hatte Alice Mitleid mit ihm, der so verlassen hinter seiner Zeitung saß. Und ihr war danach, ihn zu umarmen und ihm alles zu erzählen und ihn zu fragen, was sie nun tun solle, doch schon im nächsten Augenblick ließ dieser Gedanke sie erschaudern. Sie wandte sich ab und hielt entschlossen aufs Bad zu.
Alices Vater ließ die Zeitung sinken und massierte sich mit zwei Fingern die müden Augenlider. Noch einmal dachte Sol an die Schuhe mit den hohen Absätzen, sperrte diese Erinnerung wieder an ihren Platz und erhob sich, um den Tisch abzuräumen.
Auf dem Weg zu Mattias Wohnung hatte Alice die Musik aufgedreht, doch hätte man sie, dort angekommen, gefragt, was sie gehört hatte, wäre ihr die Antwort schwergefallen. Plötzlich hatte sie eine Mordswut und war sich gleichzeitig bewusst, dass sie kurz davor war, alles zu verderben, doch sie hatte keine Wahl mehr. Als sie vorhin vom Tisch aufgestanden war, hatte sie jene unsichtbare Grenze überschritten, hinter der die Dinge von allein abzulaufen begannen. Eine Erfahrung, die sie schon als Kind beim Skifahren gemacht hatte, wenn sie den Körperschwerpunkt nur ein paar harmlose Millimeter zu weit nach vorn verlagert hatte und plötzlich mit dem Gesicht im Schnee gelandet war.
Nur ein einziges Mal war sie bei Mattia zu Hause gewesen, aber nicht weiter als bis zum Wohnzimmer gekommen. Mattia war in seinem Zimmer verschwunden, um sich noch
etwas anderes anzuziehen, und sie hatte eine paar furchtbar verlegene Worte mit seiner Mutter gewechselt, die sie vom Sofa aus mit verwirrter, seltsam besorgter Miene anstarrte, als ständen Alices Haare in Flammen, sodass sie sogar vergaß, ihr einen Stuhl anzubieten.
Jetzt läutete Alice bei Balossino-Corvoli, und wie eine letzte Warnung leuchtete das Lämpchen neben den Klingeln rot auf. Nach einem kurzen Knistern hörte sie die erschrocken klingende Stimme von Mattias Mutter.
»Ja, bitte?«
»Signora, ich bin’s, Alice. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, aber … ist Mattia zu Hause?«
Keine Antwort. Alice ließ ihre Haare nach vorn über die rechte Schulter fallen und hatte das unangenehme Gefühl, durch die Linse der Videosprechanlage beobachtet zu werden. Dann sprang die Tür auf, und Alice lächelte kurz in die Kamera, um sich zu bedanken, bevor sie eintrat.
Im leeren Treppenhaus hallten ihre Schritte wie ein Pulsschlag von den Wänden wider. Ihr lahmes Bein schien nun völlig leblos geworden zu sein, als habe ihr Herz vergessen, es mit Blut zu versorgen.
Die Wohnungstür war angelehnt, doch im Flur war niemand, um sie zu begrüßen. »Darf ich?«, rief Alice, indem sie die Tür ganz aufstieß. Jetzt erst tauchte Mattia aus dem Wohnzimmer auf und blieb mindestens drei Schritt vor ihr stehen.
»Ciao«, sagte er, ohne sich zu rühren.
»Ciao.«
Einige Sekunden lang musterten sie sich wie zwei Menschen, die sich noch nie vorher gesehen haben. Mattia hatte seinen großen Zeh im Hausschuh über den Nachbarzeh geschoben,
und indem er sie fest aufeinander- und gegen den Boden presste, hoffte er, sie zerdrücken zu können.
»Entschuldige, dass ich …«
»Komm rein«, unterbrach Mattia sie mit monotoner Stimme.
Als sich Alice umdrehte, um die Wohnungstür hinter
Weitere Kostenlose Bücher