Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
bemüht. »Endlich habt ihr es geschafft.«
»Tja.«
Wieder entstand eine Pause, und beide hätten am liebsten den Hörer einfach wieder aufgelegt.
»Und jetzt weißt du also nicht, was du machen sollst«, zwang sich Denis zu sagen.
»Tja.«
»Das heißt, ihr beide seid nun, wie soll ich sagen …«
»Ich weiß es nicht. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Ach so.«
Denis zog den Fingernagel seines Zeigefingers durch die Windungen des Telefonkabels. Am anderen Ende der Leitung machte Mattia dasselbe, und wie jedes Mal musste er dabei an einen DNA-Strang denken, dem der Zwilling fehlte.
»Zahlen findest du überall«, sagte Denis. »Die sind an jedem Ort gleich, oder?«
»Ja.«
»Alice aber findest du nur hier.«
»Ja.«
»Dann hast du dich doch schon entschieden.«
Denis hörte, wie der Atem seines Freundes leichter und regelmäßiger wurde.
»Danke«, sagte Mattia.
»Keine Ursache.«
Mattia legte auf, und Denis stand noch ein paar Sekunden lang da, mit dem Hörer am Ohr, und lauschte in die Stille. Und etwas erlosch in ihm wie ein letzter Rest Glut, der zu lange unter der Asche geschwelt hatte.
Ich hab das Richtige gesagt, dachte er.
Dann setzte das Tut-tut des Besetztzeichens ein. Denis legte auf und ging zurück ins Bad, um sich noch mal mit seinen verfluchten Weisheitszähnen zu befassen.
27
»¿Qué pasa, mi amorcito?« Soledad neigte den Kopf ein wenig vor, um Alice in die Augen zu sehen. Seit Fernanda im Krankenhaus lag, aß sie mit ihnen am Tisch, denn allein einander gegenüberzusitzen war für beide, Vater und Tochter, nicht zu ertragen.
Signor Della Rocca hatte es sich angewöhnt, sich nicht mehr umzuziehen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Im Jackett, die Krawatte nur ein wenig gelockert, aß er mit ihnen zu Abend, als wäre er ständig auf dem Sprung. Die Tageszeitung lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch, und nur hin und wieder hob er den Blick, um sich zu vergewissern, dass seine Tochter wenigstens ein paar Happen zu sich nahm.
Das Schweigen war zum Bestandteil des Abendessens geworden und störte nur noch Soledad, die häufig zurückdachte an den fröhlichen Lärm beim Mittagessen im Hause ihrer Mutter, als sie noch ein kleines Mädchen war und sich niemals vorgestellt hätte, dass sie einmal so enden würde.
Alice hatte dem Kotelett und dem Salat auf ihrem Teller keinerlei Beachtung geschenkt. Sie trank ihr Wasser in kleinen Schlucken und schielte dabei auf das Glas an ihren Lippen, konzentriert, wie man eine Arznei einnimmt.
»Was denn?«, sagte sie jetzt achselzuckend und warf Sol ein flüchtiges Lächeln zu. »Ich hab einfach keinen Hunger.«
Ihr Vater blätterte nervös die Seite um. Bevor er die Zeitung wieder auf den Tisch legte, wedelte er heftig damit herum, wobei sein Blick auf den nicht angerührten Teller seiner Tochter fiel. Er verzichtete auf einen Kommentar und wandte sich wieder dem Blatt zu, flüchtete sich in irgendeinen Artikel, ohne dessen Sinn zu erfassen.
»Sol?«, begann Alice.
»Ja?«
»Sag mal, wie hat dein Mann dich eigentlich erobert? Beim ersten Mal, meine ich. Wie hat er das angestellt?«
Soledad hielt einen Moment im Kauen inne. Dann aß sie weiter, langsamer nun, um Zeit zu gewinnen. Woran sie dachte, war nicht der Tag, an dem sie ihn kennengelernt hatte, sondern jener Morgen, an dem sie erst spät aufgewacht und dann barfuß durchs ganze Haus gelaufen war, um ihn zu suchen. Alle Erinnerungen an ihre Ehe hatten sich im Laufe der Jahre auf jene Minuten verdichtet, als wäre die Zeit, die sie mit ihrem Mann zusammengelebt hatte, nur das Vorspiel zu diesem Finale gewesen. An jenem Morgen hatte sie den Blick durchs Zimmer schweifen lassen, über das schmutzige Geschirr auf dem Tisch und die kreuz und quer auf dem Sofa liegenden Kissen. Alles war noch genauso, wie sie es, bevor sie ins Bett gingen, zurückgelassen hatten, und in der Luft lagen auch die gleichen Geräusche wie immer. Dennoch hatte der Anblick dieser Dinge, die Art, wie das Licht auf ihnen
lag, sie so erschüttert, dass sie wie erstarrt in der Mitte des Raumes stehen blieb. Denn in diesem Moment erkannte sie mit einer befremdlichen Klarheit, dass er sie verlassen hatte.
Soledad seufzte, das übliche Heimweh vortäuschend.
»Er kam mich immer von der Arbeit abholen. Jeden Tag, mit dem Fahrrad«, sagte sie. »Und dann hat er mir die Schuhe geschenkt.«
»Er hat dir Schuhe geschenkt?«
»Ja, Schuhe. Weiß, mit solchen Absätzen.«
Soledad lächelte, während
Weitere Kostenlose Bücher