Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
keine Lust dazu hatte, er brauchte sich nur auf die korrekte Ausführung der einzelnen Schritte zu verlassen.
So machte er Anstalten aufzustehen, doch wie ein tückischer Sumpf ließ ihn die Matratze nicht loskommen.
»Kann ich mich zu dir setzen?«, fragte sie ihn.
Er nickte und rückte ein Stück zur Seite, ohne dass dies nötig gewesen wäre.
Sich mit den Händen abstützend, stand Alice vom Boden auf.
Da sah sie auf dem Bett, gleich hinter der Stelle, von der Mattia abgerückt war, ein mit Schreibmaschine beschriebenes, in drei Teile gefaltetes Blatt. Sie nahm es zur Hand, um es zur Seite zu legen, und bemerkte, dass der Text englisch war.
»Was ist denn das?«, fragte sie.
»Ach, den Brief habe ich heute bekommen. Von einer Uni.«
Alice las den Namen der Stadt, der fett gedruckt links oben in der Ecke stand, und die Buchstaben verschwammen ihr vor den Augen.
»Und was steht drin?«
»Man bietet mir ein Forschungsstipendium an.«
Alice schwindelte es, und der Schreck ließ sie erblassen.
»Wow«, zwang sie sich zu sagen. »Und für wie lange?«
»Vier Jahre.«
Sie schluckte.
»Und willst du annehmen?«, fragte sie leise, immer noch vor ihm stehend.
»Ich weiß es noch nicht«, sagte Mattia fast entschuldigend. »Was meinst du?«
Alice antwortete nicht, stand nur mit dem Brief in Händen, den Blick verloren auf irgendeine Stelle an der Wand gerichtet, da.
»Was meinst du?«, fragte Mattia noch einmal, so als wäre es möglich, dass sie ihn nicht verstanden hatte.
»Was soll ich schon meinen?« Mit einem Male klang Alices Stimme so hart, dass Mattia zusammenzuckte. Aus irgendeinem Grund dachte sie an ihre mit Medikamenten vollgedröhnte Mutter in der Klinik, während sie mit ausdrucksloser Miene auf das Blatt starrte. Am liebsten hätte sie es zerrissen.
Stattdessen legte sie es aufs Bett zurück, dorthin, wo sie eigentlich jetzt hätte sitzen müssen.
»Es wäre wichtig für meine Karriere«, rechtfertigte sich Mattia.
Alice nickte ernst, das Kinn vorgereckt, als stecke ihr ein Golfball im Mund.
»Okay. Worauf wartest du dann noch? Hier scheint’s ja nichts zu geben, was dich halten könnte«, murmelte sie getroffen.
Mattia spürte, wie seine Halsschlagader anschwoll. Vielleicht würde er gleich in Tränen ausbrechen. Seit jenem Nachmittag mit Alice im Park spürte er das Weinen ständig dort in der Kehle wie einen sperrigen Kloß, als hätten sich an diesem Tag seine so lange Jahre verstopften Tränenkanäle geöffnet, damit das ganze angestaute Zeugs endlich hinausdrängen konnte.
»Wenn ich mich jetzt dazu entscheiden würde wegzugehen«, begann er mit ein wenig zitternder Stimme, »würdest du …« Er brach ab.
»Ich soll …?« Alice starrte auf ihn herab wie auf einen Fleck auf der Tagesdecke. »Hör mal, ich hab mir die nächsten vier Jahre ganz sicher anders vorgestellt. Ich bin jetzt dreiundzwanzig, und meine Mutter liegt im Sterben. Aber…« Sie schüttelte den Kopf. »Aber dir ist das ja völlig egal. Du hast nur deine Karriere im Kopf.«
Es war das erste Mal, dass sie die Krankheit ihrer Mutter dazu benutzte, jemanden unter Druck zu setzen, aber eigentlich bereute sie es nicht.
Er erwiderte nichts, ging im Geiste nur alle Schritte durch, wie er atmen musste.
»Aber um mich brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen«, fuhr Alice fort. »Ich hab nämlich jemanden gefunden, dem ich wirklich etwas bedeute. Deswegen bin ich eigentlich auch gekommen … um dir das zu sagen.« Sie machte eine Pause, in der sie an nichts dachte. Wie damals geschah alles ohne ihr Zutun, wie damals rutschte sie den Steilhang hinunter und vergaß, die Stöcke einzusetzen, um den Fall zu bremsen. »Er heißt Fabio und ist Arzt. Ich wollte nicht, dass du es von anderer Seite erfährst …«
Wie eine Schauspielerin in einer Telenovela sprach sie diese Floskel mit einer Stimme, die nicht ihr gehörte. Sie spürte, wie ihr die Worte, rau wie Sand, über die Zunge kratzten. Währenddessen beobachtete sie Mattias Miene, auf der Suche nach einer Andeutung von Enttäuschung darin, an der sie sich festhalten konnte, doch seine Augen waren so dunkel, dass sie das Flackern darin nicht erkennen konnte. So war sie sich sicher, dass ihm das wirklich herzlich gleich
war, und wie eine umgestülpte Plastiktüte drehte sich ihr der Magen um.
»Ich geh dann mal wieder«, sagte sie leise, erschöpft.
Mattia nickte, zum geschlossenen Fenster blickend, um Alice gänzlich aus seinem Gesichtsfeld zu verbannen. Wie
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