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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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sich zu schließen, glitt ihr die abgerundete Messingklinke aus der schweißnassen Hand. Die zuknallende Tür ließ den Rahmen erbeben, und Mattia schrak nervös zusammen.
    Was will die hier, dachte er unwillig.
    Es kam ihm so vor, als sei jene Alice, über die er sich nur wenige Minuten zuvor noch mit Denis unterhalten hatte, eine ganz andere als die, die jetzt ohne Vorankündigung bei ihm hereingeplatzt war. Er versuchte, diesen lächerlichen Gedanken abzuschütteln, doch wie Übelkeit hatte ihn ein Gefühl des Überdrusses ergriffen und ließ ihn nicht mehr los.
    Das Wort »gehetzt« fiel ihm ein. Dann dachte er daran, wie sein Vater ihn früher manchmal mit seinen kräftigen Armen gepackt und auf den Teppich hinuntergezogen hatte. Ihn festhaltend, kitzelte er ihn am Bauch und an den Oberschenkeln, und er musste lachen und lachte so heftig, dass er kaum noch Luft bekam.
    Alice folgte Mattia ins Wohnzimmer, wo seine Eltern, wie ein kleines Empfangskomitee aufgestellt, warteten.
    »Guten Abend«, grüßte sie, die Schulter zusammenziehend.
    »Ciao, Alice«, antwortete Adele, rührte sich aber keinen Schritt von der Stelle, wo sie stand.
    Pietro hingegen trat auf Alice zu und strich ihr, ganz unerwartet, übers Haar.
    »Du wirst ja immer schöner«, sagte er. »Wie geht’s deiner Mutter?«

    Adele hinter ihm, ein eingefrorenes Lächeln im Gesicht, biss sich auf die Lippen, weil ihr diese Frage nicht eingefallen war.
    Alice errötete.
    »Unverändert«, antwortete sie und fügte, um nicht pathetisch zu wirken, hinzu: »Es geht schon.«
    »Wünsch ihr doch bitte Gute Besserung von uns«, sagte Pietro.
    Dann gingen allen vieren die Worte aus. Mattias Vater schien etwas durch Alice hindurch betrachten zu wollen, während sie sich bemühte, ihr Gewicht gleichmäßig auf beide Beine zu verlagern, um nicht wie ein Krüppel dazustehen. Sie musste daran denken, dass ihre Mutter niemals Mattias Eltern kennenlernen würde, und ein wenig bedauerte sie es, aber mehr noch bedauerte sie es, dass sie die Einzige war, die sich darüber Gedanken machte.
    »Geht nur rüber«, sagte Pietro schließlich.
    Mit gesenktem Kopf, noch einmal kurz Adele zulächelnd, verließ Alice den Raum. Mattia wartete schon in seinem Zimmer auf sie.
    »Soll ich zumachen?«, fragte Alice auf die Tür zeigend, als sie drinnen war. Mit einem Male schien sie allen Mut verloren zu haben.
    »Hhm.«
    Mattia setzte sich aufs Bett und verschränkte die Hände über den Knien, während sich Alice in dem kleinen Zimmer umschaute. Die Dinge darin wirkten, als seien sie noch niemals von jemandem benutzt worden, wie Waren, die sorgfältig, nach exaktem Kalkül in einem Schaufenster ausgestellt waren. Nichts Überflüssiges gab es, kein Foto an der Wand, keine als Glücksbringer aufgehobene Stoffpuppe aus Kindertagen,
nichts, was jene Atmosphäre liebevoller Vertrautheit verströmt hätte, wie man sie normalerweise in alten Kinderzimmern spürte. Mit dem Chaos in ihrem Kopf und der Unzulänglichkeit ihres Körpers kam sich Alice in dieser Umgebung fehl am Platz vor.
    »Ein schönes Zimmer hast du«, sagte sie trotzdem.
    »Danke«, antwortete Mattia.
    Eine gigantische Sprechblase, gefüllt mit den Dingen, die sie sich zu sagen hatten, schwebte über ihnen, doch beide mühten sich, sie zu übersehen, indem sie starr vor sich hin blickten.
    Mit dem Rücken am Kleiderschrank hinuntergleitend, setzte sich Alice zu Boden und zog das heile Knie an die Brust. Sie zwang sich zu lächeln.
    »Und? Wie fühlt man sich so als Akademiker?«
    Mattia zuckte mit den Schultern und deutete ein Lächeln an.
    »Genau wie vorher.«
    »Du schaffst es aber auch nie, dich einfach mal zu freuen, oder?«
    »Scheint so.«
    Alice ließ ein liebevolles »Hm« vernehmen und dachte, dass diese Befangenheit ganz überflüssig war, und doch stand sie zwischen ihnen, fest und unverrückbar.
    »Dabei hast du in letzter Zeit ja einiges erlebt«, sagte sie.
    »Schon.«
    Alice überlegte, ob sie es wagen sollte oder nicht. Und dann sagte sie es, mit völlig ausgetrocknetem Mund.
    »Auch Schönes, oder?«
    Mattia spannte die Beine an.
    Jetzt ist es so weit, dachte er.

    »Ja, schon.«
    Er wusste ganz genau, was jetzt zu tun war. Er musste aufstehen und sich neben sie setzen. Musste lächeln, ihr in die Augen schauen und sie küssen. Das war alles. Reine Mechanik, eine banale Aneinanderreihung von Vektoren, die dazu führte, dass sich sein Mund mit dem ihren traf. Das konnte er, wenn er auch im Augenblick

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