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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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auf die Uhr zu schauen.
    »Bis elf sind noch Abzüge zu machen, der übliche Mist«, sagte er.
    Er räusperte sich und hielt die Zeitung etwas höher. Aus
den Augenwinkeln verfolgte er Alices Bewegungen, sah, wie sie ihre Handtasche an den gewohnten Platz stellte und sich an die Entwicklungsmaschine setzte. Sie bewegte sich langsam, mit einer übertriebenen Präzision, welche die Anstrengung verriet, die es sie kostete, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Crozza beobachtete, wie sie einige Sekunden lang, das Kinn auf eine Hand gestützt, gedankenverloren verharrte, bis sie sich das Haar hinter die Ohren strich und mit der Arbeit begann.
    Ihm fiel ihre übermäßige Magerkeit auf, die zwar unter dem Baumwollpullover mit dem hohen Kragen und in der weiten Hose gut verborgen war, dafür aber an den Händen und in ihren Gesichtszügen umso deutlicher zutage trat. Und wieder fühlte er sich so entsetzlich machtlos, weil er in Alices Leben keinerlei Rolle spielte, sie aber sehr wohl in dem seinen, wie eine Tochter, deren Namen er nicht hatte aussuchen dürfen.
    Sie arbeiteten bis zur Mittagspause, ohne miteinander zu reden - sie verständigten sich mit knappen Gesten. Nach den langen gemeinsamen Jahren in dem Fotolabor war jeder Handgriff automatisiert, und beide bewegten sich so geschickt, dass sie sich den zur Verfügung stehenden Raum optimal teilten. Die alte Nikon befand sich unter der Theke in dem schwarzen Etui, und beide fragten sich manchmal, ob sie überhaupt noch funktionierte.
    »Essen könnten wir heute im …«, wollte Crozza fragen, doch Alice unterbrach ihn: »Tut mir leid, ich bin verabredet.«
    Er nickte nachdenklich.
    »Wenn du dich nicht gut fühlst, kannst du den Nachmittag auch zu Hause bleiben«, sagte er. »Du siehst ja, es ist nicht viel zu tun.«

    Alice blickte ihn aufgeschreckt an und tat so, als habe sie wichtige Dinge zu ordnen: eine Schere, eine Fototüte, einen Kuli und einen in vier gleiche Segmente zerschnittenen Film. In Wahrheit schob sie die Gegenstände nur hin und her.
    »Nein. Warum? Ich …«
    »Wie lange habt ihr euch jetzt schon nicht mehr gesehen?«
    Alice zuckte leicht zusammen. Sie steckte eine Hand in ihre Tasche, wie um sie zu schützen.
    »Drei Wochen, ungefähr.«
    Crozza nickte und zog dann die Schultern hoch.
    »Lass uns fahren«, sagte er.
    »Aber …«
    »Komm, los«, wiederholte er, bestimmter nun.
    Alice überlegte einen Moment. Dann beschloss sie, ihm zu folgen. Das Glockenspiel an der Tür klimperte im Halbdunkel, verstummte dann. Alice und Crozza schlugen den Weg zum Wagen ein. Langsam ging er neben ihr her und passte sich, wie selbstverständlich, ohne dass es ihr auffiel, ihrem schleppenden Gang an.
    Erst beim zweiten Versuch sprang sein alter Lancia an, und Crozza fluchte ein wenig vor sich hin.
    Bis zur Brücke durchquerten sie die Allee, dort bog er nach rechts ab und folgte der Straße am Fluss entlang. Als Crozza auf die rechte Spur einfädelte und den Blinker setzte, um ein weiteres Mal, nun in die Straße zum Krankenhaus, abzubiegen, erstarrte Alice.
    »Aber wohin …?«, versuchte sie zu sagen.
    Vor einer Werkstatt mit halb heruntergelassenem Rollgitter, gleich gegenüber dem Eingang zur Notaufnahme, hielt er an.
    »Eigentlich geht es mich nichts an«, sagte er, ohne Alice
anzuschauen. »Aber ich weiß, dass du dort hineinmusst. Zu Fabio. Oder zu einem anderen Arzt.«
    Alice starrte ihn an. Ihr anfängliches Befremden ging nun in Zorn über. Auf der Straße war es still. Die Leute hatten sich zum Mittagessen in ihre Wohnungen oder in eine Bar zurückgezogen. Die Blätter der Platanen wiegten sich lautlos im Wind.
    »So habe ich dich nicht mehr gesehen, seit …« Der Fotograf zögerte. »Seit du bei mir angefangen hast.«
    Alice wog in Gedanken dieses So ab. Es klang beängstigend, und sie schaute in den Rückspiegel, der aber lediglich die rechte Wagenseite spiegelte. Sie schüttelte den Kopf, ließ das Schloss aufschnappen und stieg aus dem Wagen, knallte die Tür hinter sich zu und eilte, ohne sich noch einmal umzudrehen, entschlossenen Schritts in die entgegengesetzte Richtung des Krankenhauses davon.
    Sie ging so schnell sie konnte, um rasch fortzukommen von diesem Ort und von Crozzas Dreistigkeit. Schon nach einigen Hundert Metern musste sie stehen bleiben, so außer Atem war sie, und außerdem tat ihr mit jedem Schritt das lahme Bein mehr weh. Es pochte, als bettele es um Gnade, und der Knochen schien ihr Fleisch durchdringen zu wollen, als

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