Die Einsamkeit des Chamäleons
Wichtige in die Handtasche geworfen, und damit genau die fünf Utensilien, mit denen sich spontan auswandern lieÃ. Handy, Brieftasche, Pass, Schlüssel, Parfüm. Der Schlüssel gehörte nur dazu, damit er nicht herumlag und andere zum Einbruch animierte. Zudem garantierte er Zugang zum Rückzugsort bei ebenso spontaner Rückkehr. Rebekka klemmte sich den noch ungelesenen Teil der Berliner Zeitung unter den Arm und sprintete zum Bus.
In der S-Bahn fiel es ihr schwer, sich auf die Seite drei ihrer Zeitung zu konzentrieren, die für exzellent recherchierte Personenporträts stand, und diesmal einem Nationalmannschaftstrainer gewidmet war, dessen Team ein FuÃballspiel vergeigt hatte. Eine ganze Seite für jemanden und etwas, das den Informationsgehalt des viel zitierten und immer wieder umkippenden Sackes Reis in China hatte. Die Bilder drauÃen rasten an Rebekka vorbei, ein Daumenkino brandenburgischer Kreativität im Bau von Eigenheimen. Sie wusste, dass ihre fehlende Konzentration nicht am deutschen Nationaltrainer lag. Sie wusste, dass ihre Gedanken bei Erik Assmann waren und jenem Moment, da er Ulrike hatte von seinem Bier trinken lassen. Was die beiden miteinander verband, war Rebekka noch nicht klar. Nur, dass sie sich in dem Moment verraten hatten.
Kapitel 19
Halb eins betrat Rebekka das Hackendahl und sah Ulrike bereits im hinteren Teil des Cafés auf einem Plüschsofa sitzen. Ulrike sah frisch und ausgeschlafen aus. Ihre kurzen, wilden Locken zum Pilzkopf gegelt, eine derbe Cargohose zu offenen Sportschuhen aus schwarzem Leder und einen silbernen Langarmpulli. Silberne Reifen rasselten an ihrem Arm, als sie Rebekka winkte. Trotzdem begrüÃten sich die beiden Frauen etwas schüchtern, und es entstand eine peinliche Pause, während Rebekka sich setzte und angestrengt auf die vergilbten Wände starrte. Es war doch immer wieder wie ein erstes Mal, wenn sie sich in das Leben anderer schlich und daraus eine Freundschaft entstand, die aus einer Retorte kam, von Rebekka kreiert. In Momenten wie diesen holten sie die Skrupel ein. Rebekka wusste, dass sie sich erst dann Sorgen machen müsste, wenn sie keine Skrupel mehr spürte.
»Geht es dir besser?«, brach Ulrike das Schweigen.
»Oh, viel besser. Ich hoffe, deine Leute haben mir meinen lautlosen Abgang gestern nicht übel genommen.«
»Quatsch, wo denkst du hin?«, entrüstete sich Ulrike. »Natürlich habe ich ihnen gesagt, was passiert ist. AuÃer von Nils ⦠und an dessen maroden Humor wirst du dich noch gewöhnen ⦠soll ich dich von allen grüÃen. Selbst von Jörn, der nun gestern wirklich nicht viel mitbekommen hat.«
»Er ist ein Junge, bei dem man beginnt, sich Sorgen zu machen, bevor man ihn überhaupt kennengelernt hat. So geht es mir jedenfalls.« Rebekka seufzte und wusste nicht recht, ob sie den Vorstoà zu Ulrikes Bruder bereits wagen konnte.
»Er macht uns allen Sorgen«, pflichtete Ulrike ihr bei, »wir sind weià Gott alle vier nicht ganz einfach, aber ihn haut es doch am ärgsten aus der Spur.«
Rebekka lehnte sich zurück, beobachtete, wie Ulrike sich nervös durch das Haar fuhr. Dabei sah sie aus wie ein Model, das die perfekte Pose sucht.
»Was genau ist es, was deinen Bruder so sehr getroffen hat?«
»Besser wäre es zu fragen, wer hat meinen Bruder so sehr getroffen. Und da müssen wir bei Nils beginnen. Der ist der Erste von uns Vieren. Früher sagte man wohl, der Erstgeborene, und verband das auch noch mit einer gewissen Bedeutung. Nur dass Jörn als Zweiter ständig von seinem Bruder das Gefühl vermittelt bekam, nun gleich gar keine Bedeutung zu haben. AuÃerdem â¦Â«, Ulrike kicherte, »hatte Jörn das eigentlich gewünschte Mädchen werden sollen. Aber das wurde ich ja dann, der dritte Wurf.« Sie wurde ernst. »Die beiden Jungs verloren ihre Mutter, da waren sie zwölf und zehn Jahre alt. Und dazwischen liegen in diesem Alter Welten. Mein Vater hat das ausgenutzt und Nils mangels Mutter gleich zum zweiten Kapitän auf dem Schiff gemacht, woraufhin Jörn in der Kombüse natürlich gar nichts mehr zu lachen hatte.«
Der groÃe allwissende Nils braucht also immer jemanden um sich, den er klein halten oder klein machen kann .
Rebekka spürte bereits die Spannung, die in der Luft lag und bis zur nächsten Begegnung mit ihm anhalten würde.
»Muttern
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