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Die Einsamkeit des Chamäleons

Die Einsamkeit des Chamäleons

Titel: Die Einsamkeit des Chamäleons Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Holland Moritz
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hatte Jörn immer in Schutz genommen vor Nils, eigentlich vor allem da draußen«, Ulrike machte eine abfällige Kopfbewegung hin zu der Welt vor dem Kneipenfenster, »und Jörn, ihr Schätzchen, hatte ihren Tod nicht verhindern können.«
    Â»Hat sie sich …«
    Â»Nein«, unterbrach Ulrike Rebekka überraschend forsch. »Sie wurde ganz plötzlich krank. Krebs. Da war wohl nichts zu machen.«
    Rebekka spürte den kalten Luftzug, der das Gespräch plötzlich durchbrach. Entweder war Ulrike besonders misstrauisch ihr gegenüber oder sie versuchte, Rebekka für dumm zu verkaufen. Neben dem Pfarrer hatte auch die Kindergärtnerin sofort vom Suizid der Mutter erzählt. Wobei für einen Menschen wie Frau Mischke sowieso offensichtlich war, dass Künstler irgendwie verrückt und schon deshalb suizidgefährdet waren. Und dann hatte Mark Rebekka gebeten, nach Anneliese Ottos Tod zu forschen.
    Welches Geheimnis trägt diese Familie mit sich herum?
    Ulrike fuhr sich durchs Haar, vom Rasseln ihrer Armreifen begleitet.
    Â»Und dann war Nils neben unserem Vater der zweite Mann im Haus, und Jörn musste mithalten, die Handlangerdienste machen, nach der Schule Altpapier und Flaschen sammeln, um sich das Taschengeld zu verdienen, das sein großer Bruder einfach so vom Vater zugesteckt bekam.«
    Rebekka schüttelte den Kopf. » Altstoffsammlung  …«
    Ulrike schaute sie verstört an. »Was ist damit?«
    Â»â€¦ das war für mich kein Wort, sondern eine Drohung, die mir als Kind eine ganze Woche lang die Stimmung versauen konnte. Und dann noch die Parolen, unter denen gesammelt wurde. Wir durften zwar außer in die Ostländer sonst nirgendwo hin reisen, aber die Aktionen waren aus heutiger Sicht geradezu kosmopolitisch. ›Solidarität mit den Völkern der Welt‹, ›Solidarität mit Vietnam ‹, ›Hilfe für den Wiederaufbau in Vietnam‹, ›Hilfe für Mosambik ‹, ›Hilfe für Angola ‹ … welch ein Hohn. »
    Ulrikes Gesichtszüge lösten sich.
    Â»Bist ja richtig sauer. Das gefällt mir!«
    So selten, wie Rebekka aus ihrer Vergangenheit erzählte, so sehr genoss sie es jedes Mal, vor allem dann, wenn sie Parallelen bei ihrem Gegenüber entdeckte. So auch jetzt.
    Beide Frauen stammten ›aus dem Osten‹, wie es hier, mitten in Berlin, auch knapp 20 Jahre nach dem Mauerfall noch so schön hieß. Das war mehr als Herkunft. Das war ein Band, das Menschen mit dem Abstand zu Ereignissen und ihrer eigenen Rolle darin tatsächlich miteinander verband. Es war ein loses Band, denn spätestens nach der ersten ungeteilten Meinung zu dem, was sich seit der Wende ereignet hatte, ging man wieder getrennte Wege. Aber das Knüpfen an sich, die Dynamik des ersten Eindrucks, hatte eine ganz eigene Qualität.
    Ulrike war froh, eine Freundin wie Rebekka gefunden zu haben. Dass sie beide aus dem Osten kamen und die gleichen Ansichten teilten, setzte dem Genuss die Sahnehaube auf.
    Rebekka lehnte sich entspannt zurück, war es doch eine Wohltat, einen Satz an den anderen reihen zu können wie Schritte auf einem Spaziergang und nicht wie auf einem Gang durch ein Minenfeld.
    Â» Altstoffsammlung hieß, sich irgendwoher einen Handwagen organisieren zu müssen, bei den Nachbarn leere Schnapsflaschen zu erbetteln, alte Zeitungen im Keller mit Stricken zu bündeln und die Treppen hoch zu schleppen, und das alles dann bei Wind und Wetter durchs Neubaugebiet zu karren, wo im ›Versorgungszentrum‹ der Altpapierhändler gerade geschlossen hatte. Denn das Schild mit den Öffnungszeiten war aus Pappe, mit Bleistift vollgekrakelt und immer neue Öffnungszeiten präsentierend. Der musste Dutzende dieser Schilder gehabt haben und hängte immer das passende in die Tür, wenn ich gerade mit dem quietschenden Ungetüm von Handwagen davor stand. Hatte ich dann doch mal eine Lücke während seiner Öffnungszeiten erwischt, die eigentlich Schließzeiten waren, dann regnete es. Und bei Regen wogen die Zeitungen mehr. Und das wusste er, und dann ließ er mich wissen, dass er es wusste. Und dabei stank er aus dem Maul nach Hunderten von Schnapsresten. Und dann gab er mir feixend ein paar Groschen in die Hand, ein feuchter Kehricht für die Mühe einer ganzen Woche, und trug irgendwas ein in ein Vokabelheft, wie wir es in der Schule hatten, links

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