Die Einsamkeit des Chamäleons
noch immer nicht gelöst hatte. Seine Frau würde ihren faden Senf dazugeben. Dann hätten sie endlich etwas zu reden. Und er würde sich seine widerwärtigen Gedanken spinnen und irgendwann wie der Bär vorm Honigtopf versuchen, in das Haus einzusteigen. Denn die winzige Kamera unterhalb der Regenrinne hatte er trotz seiner täglichen Schnüffelei noch nicht erspäht.
Kapitel 26
Am Alexanderplatz stieg Rebekka aus der S-Bahn. Sie konnte zwei Stationen mit der StraÃenbahn fahren bis zum Vico House . Eine Bahn stand da, die Türen noch geöffnet, drinnen Kindergeschrei und noch ein paar freie Plätze. Die Fahrerin schaute Rebekka abwartend an. Dann schlossen sich die Türen. Die Bahn fuhr weg, und Rebekkas Blick fiel auf der gegenüberliegenden StraÃenseite auf das Plakat mit den Moon-series von Andrew Cascone. Nun erkannte sie auch die Neuigkeit hinter diesem Plakat: Lutter stellte seine Kunstsammlung, zu der nun auch Werke von Andrew Cascone gehörten, im Sommer im Gropius-Bau aus. Amüsiert schüttelte Rebekka den Kopf. Er wäre also in Berlin. Das Abenteuer konnte beginnen.
Rebekka ging zurück ins Bahnhofsgebäude. Fand einen italienischen Eisladen, der Kaffee zum Mitnehmen verkaufte. Ihr Koffer war leicht und fuhr auf Rollen. Ihre Handtasche hing schräg über ihrer Schulter, so blieb eine Hand frei für einen Kaffeebecher. Sie zahlte, bedankte sich und ging.
Am Kaufhaus entlang laufend, an dessen Schaufenstern sich kleine Grüppchen Leute entlangschoben, erinnerte sie sich an Sonntagsspaziergänge mit ihrer Mutter und wie wenig Gefallen sie daran gehabt hatte. Ihre Mutter wollte auch ohne den Vater immer wie eine normale Familie leben. Und das hieÃ: Sonntagsspaziergang. Und dann fuhr man zum Alex. Centrum Warenhaus . Schaufenster gucken. Hier gab es mehr Auswahl als in Marzahn oder Neuenhagen. Hier war die groÃe Welt. Rebekka hatte sich immer zum Fernsehturm auf der anderen Seite des S-Bahnhofes hingezogen gefühlt, doch ihre Mutter wollte davon nichts wissen. Am Fernsehturm trafen sich die Coolen, die Punker und später New Romantics. Rebekka träumte sich schon damals den Moment zurecht, in dem sie die elterliche Wohnung verlassen und sich ein Zimmer in dieser aufregenden Stadt nehmen würde. Abends wollte sie dann mit ihrer Beirette 36 , ihrem Traum von einem Fotoapparat, zum Fernsehturm gehen, dann rüber zum Springbrunnen, wo sich all jene trafen, denen die Popper mit den Skateboards vom Fernsehturm auf den Wecker gingen. Fotos wollte sie machen, in Schwarz und WeiÃ, sie entwickeln lassen und irgendwo ausstellen. Sehr einfach waren ihr die Dinge damals erschienen, während sie am Arm ihrer Mutter brav die Kittelschürzen im Schaufenster des Centrum Warenhauses betrachtete.
Eine Generation von Sonntagsspaziergängern später lief sie nun wieder an den Schaufenstern entlang, nippte am Kaffee und betrachtete ihr Spiegelbild vor lebensechten Puppen mit Nike -Klamotten. Auf der anderen Seite âºRistoranteâ¹ in Plattenbauten und das ehemalige Pressecafé , das jetzt ein Steakhaus war. Sie schaute hinauf zum Park-Inn, von dessen Dach man sich in einen Bunjee-Jump stürzen konnte. Sie hatte das öfter im Vorbeifahren gesehen, bekam nun aber direkt vor dem Gebäude Gänsehaut bei der Vorstellung, erstens in einem engen Fahrstuhl ganz nach oben fahren zu müssen, zweitens diesen Sprung im vollsten Verlass auf die Einstellung des Gummiseils zu machen und drittens im engen Fahrstuhl wieder herunterfahren zu müssen.
Weiter vorn dann die vertraute Häuserzeile: die Redaktion der Berliner Zeitung .
Rebekkas Schritte wurden schneller, sie warf den leeren Kaffeebecher im Vorbeigehen in einen Papierkorb. Wie das Kind vor dem Weihnachtsbaum blieb sie vor dem Vico House stehen.
Indessen beobachtete ein mittelaltes Ehepaar einen Mann dabei, wie er einen gebrauchten Kaffeebecher aus einem Papierkorb fischte.
»Der sieht gar nicht aus wie ein Flaschensammler«, sagte sie zu ihm.
»Ich sehe auch nicht aus wie ein StraÃenbahnfahrer«, entgegnete er.
»Doch! Und nun komm.«
Das ehemalige Kaufhaus Jonaà strahlte etwas Mondänes aus, das an dieser etwas seelenlosen StraÃenecke deplatziert wirkte. Nach der Enteignung der jüdischen Eigentümer während der Herrschaft der Nazis diente das Gebäude der Hitlerjugend und später der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands als Zentrale.
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