Die Einsamkeit des Chamäleons
herum, das komplette Oeuvre dieser jungen Frau, die innerhalb kurzer Zeit vier Kinder zur Welt gebracht, vier Gedichtbände veröffentlicht und sich umgebracht hatte.
Rebekka hatte zu Lyrik nie einen Zugang gefunden, damit ging es ihr wie mit abstrakter Malerei, zeitgenössischem Theater und Zwölftonmusik: Sie fühlte sich nicht unterhalten und im selben Moment wie der letzte Stümper, weil sie sich nicht unterhalten fühlte. In diesen Kunstformen steckte eine Art von Kreativität, die gröÃer als alles zu sein schien und damit für Rebekka von vornherein unerreichbar. Mehrmals hatte sie Anlauf genommen, die Gedichte zu lesen, schlieÃlich aber immer wieder nur in den schmalen Bändchen geblättert.
Sie schenkte sich einen Rotwein ein und trank das erste Glas mit wenigen Zügen leer. Als wollte sie sich Mut antrinken, um in dem Tagebuch einer Fremden zu lesen. Genauso vorsichtig schlug sie nun zum gefühlten hundertsten Mal die erste Seite des ersten Bandes auf. Nils war im selben Jahr wie das erste Buch geboren. Rebekka ebenso. Und Anneliese Otto war gerade volljährig geworden. Zwei Jahre später kamen der zweite Band und das zweite Kind. Jörn. Drei Jahre danach der dritte Band. Ulrike. Drei Jahre danach der vierte Band. Achim.
Nach zwei Stunden hatte Rebekka alle vier Bände durch und fing beim ersten wieder an. Scheinbar rastlos gingen die Sätze ineinander über. Ohne Atempause prasselten Worte aufeinander und fügten sich zum Schluss doch zu einem stimmigen Bild. Hier war eine Meisterin am Werk, zumindest eine, von der sich Rebekka nicht nur unterhalten, sondern wachgerüttelt fühlte. Rebekka machte sich nichts vor, ohne den Tod des ihr völlig fremden Karl-Heinz Otto in jener Berliner Recyclingfirma hätten sie diese Gedichte so wenig interessiert wie jedes andere.
Anneliese Otto schrieb von Fragen, die keine Ruhe gaben und sich immer nachts in Pferde verwandelten, die im Garten vor dem Haus weideten und ihn dann verwüsteten. Sie malte sich ihre eigene Beerdigung aus und die Dinge, die sie mit ins Grab nehmen wollte, die Freiheit zum Beispiel, und einen groÃen Sack voller Flöhe.
Rebekka hatte nicht erwartet, in irgendeiner Zeile ein Abbild wenigstens eines der vier Kinder zu entdecken oder des Mannes, der ihr die Kinder gemacht hatte. Doch jene seltsame Kälte, die sie beim Lesen verspürte, passte einfach nicht zu dem Konterfei der Frau auf dem Buchumschlag. Unterschwellig jedoch war es noch etwas anderes, das Rebekka stutzig machte.
Nach weiteren zwei Stunden begann sie zum dritten Mal mit dem Lesen. Sie blätterte vor und zurück. Setzte den Stift an und wieder ab. Immer dann, wenn sie etwas notieren wollte von dem, was sich da so unglaublich breit machte als Wald in dieser Ansammlung aus Bäumen, spürte sie, dass es dafür keine Worte gab. Es war die Sprache. An immer wieder derselben Stelle zuckte Rebekka beim Lesen zusammen. Dann wechselte die Sprache der Autorin ihren Ton, dann war es, als wäre ihr Instrument neu gestimmt. War es vorher Dur, dann war jetzt Moll und der Himmel um einiges dunkler, aber klarer als zuvor.
Genauso klar sah Rebekka und klappte das Buch zu.
Sie setzte das Glas an, nahm einen groÃen Schluck, ohne zu spüren, dass es leer war.
Ein vergessener Tropfen landete auf dem leinenen Einband. Wie eine letzte Träne, wenn das Weinen schon vorbei war.
Rebekka starrte das Buch an. Hier lag die Lösung. Und sie hatte sie seit einigen Wochen in ihrer Handtasche mit sich spazieren getragen.
Kapitel 43
Diesen scheià Job würde er bald wieder an den Nagel hängen. Abends waren keine Kneipenbesuche mehr drin, weil dann seine Nachtschicht begann, und an den Wochenenden war er viel zu platt, um sich auf die Pirsch nach den alten Seilschaften zu begeben. Er kannte kaum noch einen von der StraÃe, hatte den Draht zu den anderen völlig verloren und nicht mitbekommen, wohin die Karawane nun ohne ihn weiter gezogen war. Der Typ, für den er hier die Drecksarbeit machte, trieb sich dummerweise auch ständig hier rum. Hatte der kein Zuhause? Machte einen auf Chef und drückte sich immer so umständlich aus. Sie handelten hier nicht mit Blutkonserven, sondern scheià verrottetem Metall. In der letzten Zeit machte der auch noch einen auf Kumpel, wollte immer wissen, wieâs läuft. Und der hatte so eine komische Art, ihn anzuschauen. War zwar freundlich, im selben Moment aber
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