Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten
sagte: »Leb wohl, leb wohl, du meine schöne Stadt! Die Flut hat dich hinweggespült.« Die ersten Anzeichen der Flut habe ich an der Strasse bemerkt, durch die ich täglich zur Arbeit in der Wasserbehörde ging. Ich liebte diese Strasse und war richtig stolz darauf, zu den Einwohnern der Stadt zu gehören, die so eine Strasse hat. Selbst in diesem Moment, da ich mich zum Schreiben setze, erhellt mich noch die Freude, mein Herz schlägt voller Sehnsucht, und ich stelle mir die leuchtendbunten Sonnendächer ihrer Läden und Geschäfte vor – Farben von grellem Orange und kräftigem Blau. Da war jener hübsche Sonnenschirm, den ich oft betrachtet habe, während der Verkäufer mir Papiertütchen voll Erdnüsse anbot. Darauf stand der Name des Ladens – »Stern der Freiheit« –, dessen Besitzer Kirchererbsen, verschiedene Nüsse und Scherzartikel verkaufte. Doch als die Flut kam, veränderte sich diese Strasse, die mir seit meiner Kindheit vertraut war und die ich viele Male entlangging. Stück für Stück verlor sie ihre Gesichtszüge. Das Glas der glänzendsauberen Fensterscheiben, in denen man sich morgens spiegeln konnte, wurde matt. Auf dem einst glatten Strassenpflaster, das in den heissen Sommerstunden mit Wasser benetzt wurde, bildeten sich schmutzige Lachen. Sie wurden von Tag zu Tag grösser,bis überall auf dem Pflaster kleine, brackige Seen entstanden waren. Da ich die Strasse täglich zur Arbeit und zurück ging, vertrieb ich mir im allgemeinen die Zeit, indem ich die schönen Bäume der Strasse betrachtete, und ich wusste, dass nach dem Blaugummibaum der Casuarina-Baum kam und dann der indische Feigenbaum. Etwa zwanzig Meter vor der Tür zur Wasserbehörde stand ein anderer schöner Baum, dessen Namen ich nie erfuhr. Er hatte ausladende Äste, seine Blätter fielen zu Frühlingsbeginn fast alle ab, und riesengrosse violette Blüten prangten an ihm. Er war einzigartig, die Perle unter den Bäumen. Ich wusste genau, wie viele Bäume auf meinem Weg standen – einunddreissig grünbelaubte Bäume schmückten die Strasse. Sobald ich sie sah, erfreute sich mein Herz. Doch als ich eines Tages wieder einmal zählte, waren es nur dreissig. Ich wunderte mich und dachte, dass ich mich sicherlich verzählt hatte, weil ich in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt war. Aber als ich mittags auf meinem Rückweg von der Wasserbehörde noch einmal zählte, merkte ich, dass einer der neun indischen Feigenbäume nicht mehr an seinem Platz stand. Er war mitsamt den Wurzeln herausgerissen worden und lag mit dem Schutt eines alten Hauses, mit dessen Abbruch man begonnen hatte, auf dem Pflaster. Er kam mir vor wie der Leichnam eines unschuldigen Vogels, der, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, meuchlings ermordet worden war. Ich weinte bitterlich, denn gegen jenes fürchterliche Würgen, das meine Kehle zuschnürte und mich fast erstickte, half nichts als Weinen. Von jenem Moment an fühlte ich Veränderungen in mir, ich spürte leichte Schmerzen in meinem Inneren und hatte Kopfweh. Am Anfang mass ich der Sache keine Bedeutungbei, aber dieser Zustand dauerte an, Tage und Wochen. Nach einiger Zeit wurden aus dem Kopfweh schreckliche Kopfschmerzen, und wahnsinnige Kopfschmerzen begleiteten jeden meiner Seufzer und jeden Atemzug.
Die Ärzte, die ich aufsuchte, gaben mir erst nutzlose Beruhigungs- und Schlafmittel und führten meinen Zustand schliesslich auf eine chronische Entzündung des Dickdarms infolge von Nervosität zurück. Als dann in der alten Strasse nur noch ganze drei Bäume übrig waren, nur noch drei von einunddreissig, weiss ich nicht genau, was mit mir geschah. Ich weiss auch nicht, was mit dieser Stadt und ihren Bewohnern los war. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich in dieser Zeit gewaltig an Gewicht zunahm, bis ich wirklich dick war, und dass ich jegliche Fähigkeit, Freude zu empfinden, einbüsste. Ich hatte keine Lust mehr, ins Kino zu gehen oder mich mit meinen Freundinnen über all die Dinge zu unterhalten, über die ich immer so gerne geredet hatte. Obwohl ich immer älter wurde, beschloss ich, nicht mehr ans Heiraten zu denken. Dabei war ich nicht hässlich. Selbst als ich, wie bereits erwähnt, zugenommen hatte, hielten mich manche noch für schön. Vielleicht war es die Reinheit meiner Haut, meine grossen Augen oder meine weichen Haare. Allerdings überlegte ich stets in dieser Zeit: Wie sollte ich eines Tages heiraten und Kinder haben, die in dieser Stadt wohnen? Wie elend
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