Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Medizinmännern am Lagerfeuer erzählt wird, das bedeutet, was ich glaube, bewahrheiten sich Onkel Antonios schlimmste Befürchtungen: Die Wahrheit wird mich vernichten. Ich spüre schon, wie es anfängt, es wie eine Ratte an jedem Gedanken nagt, der mir durch den Kopf geht.
In Little Cam ist es fast so dunkel wie im Dschungel. Ich gleite über das Gelände wie ein Geist, der zurückkommt, um seine Hinterbliebenen heimzusuchen. Alles scheint zu schlafen. Kein Licht in den Fenstern, keine Stimmen in der Dunkelheit. Ich bin allein und es macht mir Angst. Lieber wäre ich in einer Zelle im Block B eingesperrt als allein mit mir und der Stimme in meinem Kopf.
Am liebsten würde ich direkt in mein Zimmer gehen, die Tür hinter mir schließen und ins Bett kriechen. Mich unter der Decke verstecken und nie mehr vorkommen. Mich einfach in einen Raum einschließen, in dem nichts und niemand – keine Onkels oder Tanten, nicht Eio und vor allem nicht die Wahrheit – mich finden kann. Aber ich tue es nicht. Ich gehe um das Glashaus herum zu dem Chinarindenbaum, wo Onkel Antonio mich weinend entdeckte und wo ich erkannte, dass er Eios Vater ist.
Es ist finsterste Nacht, aber meine Elysia-Augen erkennen dennoch die Blätter am Baum und die Grashalme, als ich mich hinknie. Langsam streiche ich mit den Händen durchs Gras, meine Haut aufmerksam und sensibel, falls meine Augen sie übersehen. Wenn sie überhaupt da ist. Ich wünsche mit jeder Faser meines Herzens, dass es nicht so ist.
Nachdem die Menschen das Blut der Ältesten getrunken hatten, weinten und klagten sie im Tal und aus ihren Tränen wuchs mehr Yresa.
Das Gras ist bereits voller Tauperlen und bald sind meine Hände und Kleider nass. Jeder Halm ist weich, nur wenn meine Finger am Rand entlangstreichen, sind sie messerscharf.
Drei Monde und drei Sonnen lang weinte er, und als er keine Tränen mehr hatte, schaute er auf und sah, dass das Tal wieder voller Yresa war. Seine Tränen hatten sie hervorgebracht.
Meine Augen sind es und nicht meine Hände, die sie finden, kurz bevor ich erleichtert aufgeben will. Aber Erleichterung ist mir nicht vergönnt, nicht heute Nacht, denn da ist sie, genau an der Stelle, an der meine Tränen auf den Boden tropften. Matt und grau in der Dunkelheit, aber es besteht kein Zweifel. Je länger ich sie anstarre, desto deutlicher kommen die Farben zum Vorschein. Lilarote Blütenblätter mit goldenem Rand, die Orchideenform, die atemberaubende Schönheit. Eine Blüte hatte ich nicht erwartet. Einen Sämling, höchstens eine Knospe, aber keine voll entwickelte Blüte. Zwei Tage. Sie ist in nur zwei Tagen gewachsen.
Welche wissenschaftliche Erklärung hätte Onkel Paolo wohl dafür?
Die Sporen, aus denen Elysia wächst, sind in den Tränen Unsterblicher enthalten, in der DNA von Menschen, die Elysia in ihren genetischen Code aufgenommen haben. Auf eine verrückte, in der Wissenschaft noch nie da gewesene Art ist es irgendwie logisch. Trotz ihrer jahrzehntelangen Forschung sind die Wissenschaftler nicht darauf gekommen – und die »unzivilisierten« Ai’oaner wussten es die ganze Zeit.
In meinem Zimmer lege ich mich aufs Bett und drehe die Blüte hin und her, wobei ich höllisch aufpasse, dass ich sie nicht umdrehe und der Nektar herausfließt. Welche Schönheit. Welches Grauen. Vereint in einer einzelnen Blüte.
Ich höre ein leises Klopfen an der Tür und Onkel Antonios Stimme. »Kann ich reinkommen?«
»Bitte geh«, antworte ich gerade so laut, dass er es hören kann. »Ich brauche etwas Zeit.«
»Pia…« Ich höre die Ungeduld in seiner Stimme. »Okay. Gut. Ich gebe dir Zeit. Aber du musst wissen, dass wir nicht mehr viel davon haben.«
»Ich weiß.«
Nachdem er weg ist, betrachte ich die Blüte erneut und streiche über die samtenen Blätter.
Der Katalysator ist keine Pflanze. Er ist ein Mensch oder sogar viele Menschen. Die Geschichte erzählt all das: Ein Mensch trinkt den tödlichen Nektar einer Elysia-Blüte, und wenn er stirbt, trinken die anderen sein Blut. Das Blut floss von Mutter zu Tochter, von Vater zu Sohn und jeder Generation wurde ein Beschützer geboren. Fünf Generationen. Fünf Generationen müssen sterben, um einen »Beschützer« hervorzubringen, einen Tapumiri. Wenn ein ganzes Dorf den genetischen Einfluss von Elysia weitergibt, ist es logisch, dass ungefähr ein Kind aus jeder Generation unsterblich geboren wird.
Jaguar, Mantis, Mond. Kapukiri hat es in meinen Augen gesehen, in den wirbelnden Farben,
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