Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
öffne die Haustür und schlüpfe hinaus. Es ist kühl draußen und die Luft ist rein. Meine Sinne sind ähnlich ausgeprägt und fein wie die von Alai. Schatten hängen sich an uns und decken uns, als wollten sie mich in meiner Verrücktheit unterstützen. Noch brauche ich die Taschenlampe nicht. Ich kenne jeden Zentimeter von Little Cam so gut wie mein Spiegelbild.
Einzelne Jazzakkorde finden ihren Weg aus dem Garten an mein Ohr. Die Musik ist lebhaft, doch unter der leichten Melodie liegt ein gleichmäßiger, unermüdlicher Trommelschlag. Diese Töne höre ich am deutlichsten, vielleicht weil sie wie die Verstärkung meines eigenen Herzschlags klingen. Meine Handflächen sind schweißnass und ich reibe sie gedankenlos an meinem Kleid trocken. Die Taschenlampe wandert dabei von einer Hand in die andere.
Es dauert nicht lang, bis ich auf der Rückseite des Glashauses bin, obwohl ich langsam gehe und in ständiger Angst, von meiner Mutter oder Onkel Paolo erwischt zu werden, in die Dunkelheit lausche. Doch alles ist ruhig. Ich höre nur den Wind in den Bäumen und das unaufhörliche Zirpen der Zikaden, an das ich so gewöhnt bin, dass ich es nur noch höre, wenn ich ganz bewusst darauf achte.
Hinter dem Haus knie ich mich bei dem Loch im Zaun auf den Boden und schiebe die schweren Blätter der Bromelien beiseite. Das Loch ist tatsächlich da. Halb hatte ich gehofft, mein Gehirn hätte mir einen Streich gespielt. Aber es ist da, und obwohl ich entsetzliche Angst habe, mache ich jetzt keinen Rückzieher. In meinem ganzen Leben habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als auf der anderen Seite des Zaunes zu sein. Es ist falsch, ich weiß. Mir fehlt es in Little Cam an nichts. Im Dschungel ist nur Dunkelheit. Ich weiß selbst nicht, was ich zwischen den Bäumen und Blättern zu finden hoffe. Ich zögere, spüre die Feuchtigkeit des Bodens durch mein Kleid und kämpfe gegen den Impuls an. Aber er ist stark, stärker als je zuvor. Geh! Geh! Geh!, drängt mich mein Herz, leise und ununterbrochen und unwiderstehlich. Es sind die Trommelschläge hinter dem Jazz. Es ist das Toben eines wilden inneren Dämons, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn in mir habe. Onkel Paolo sagt, es gibt keine Dämonen und auch keine Engel, sodass es vielleicht einfach eine andere Pia ist. Die Pia, die keinen Spaß mehr an ihrer eigenen Geburtstagparty hat und Weltkarten unter ihrem Teppich versteckt.
Als habe er für mein Zögern nur Verachtung übrig, macht Alai plötzlich einen Satz nach vorn und schlüpft durch das Loch. Kein einziges Haar berührt den Zaun. Auf der anderen Seite bleibt er stehen, dreht sich um und beobachtet mich mit mondgleichen Augen. Ich knipse die Taschenlampe an und inspiziere die Lücke. Zum Durchkriechen ist sie groß genug. Das Kleid ist anschließend ruiniert, aber wahrscheinlich trage ich es ohnehin nie mehr. Der Zaun ist verheddert und verbogen, doch der entwurzelte Baum hat die Drähte anscheinend nicht durchtrennt. Deshalb wurde im Kontrollraum auch kein Alarm ausgelöst. Von den dickeren Knollen des umgestürzten Baumes hängen dünne, lange Wurzeln wie Haare herunter und bilden einen schmutzigen, verfilzten Vorhang. Wenn ich mich zurücklehne, verschwindet das Loch hinter den Pflanzen darum herum. Ein Wunder, dass ich es überhaupt entdeckt habe.
Alai geht auf und ab und drängt mich mit seinen gelben Augen ihm zu folgen.
Geh! Diese Chance bekommst du nie mehr, flüstert die Stimme der wilden Pia in meinem Kopf. Sie erschreckt mich mit ihrer Heftigkeit, aber ich gehorche.
Ich werfe die Taschenlampe durch das Loch. Sie fällt so, dass der Lichtstrahl in meine Richtung scheint und mir leuchtet. Jetzt muss ich mich beeilen. Nicht dass noch irgendjemand hier vorbeikommt, dem das Licht auffällt oder gar das Mädchen, das in einem blaugrünen Partykleid unter dem Zaun durchkrabbelt wie ein Wasserschwein, das nach Wurzeln gräbt.
Ich bin sehr vorsichtig, damit ich beim Durchkriechen nicht an den Zaun komme. Er könnte meine Haut nicht aufreißen. Nicht meine. Aber ich will keinen Alarm auslösen, wenn ich den Draht berühre, und keinen Elektroschock bekommen.
Sobald ich auf der anderen Seite bin, lockere ich die Erde mit den Händen und richte die niedergedrückten Bromelien wieder auf. Als das Loch ausreichend getarnt ist, hebe ich meine Taschenlampe auf und wende mich dem Dschungel zu. Alai neben mir brüllt.
»Pssst!« Ich lege meine Hand über seine Schnauze und er schüttelt irritiert den Kopf, bevor
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