Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
mir anstelle meiner Mutter, aber gesagt habe ich ihr das noch nie.
Sie zerreißt das Foto in kleine Fetzen. »Diese Party, das Tanzen… es war keine gute Idee. Ich habe eine Weile den Kopf verloren. Ich hätte dir das nicht zeigen dürfen.«
Ich presse wütend die Lippen zusammen und sage nichts.
Sie steckt die Fetzen in ihre Tasche. »Gute Nacht, Pia.«
Ich schließe die Tür hinter ihr, bleibe einen Moment stehen und überlege, was da gerade passiert ist und warum ich mich so aufrege. Ich wünsche, sie hätte mir das Foto nicht gezeigt. Es sieht ihr gar nicht ähnlich, eine solche Sentimentalität an den Tag zu legen. Und es stimmt: Onkel Paolo hätte es nicht gutgeheißen.
Trotzdem hätte ich das Foto gern behalten.
Ich rutsche an der Wand hinunter, knie mich auf den Teppich und schlinge die Arme um Alais pelzigen Hals. »Das war knapp. Viel zu knapp.« Anstelle einer Antwort leckt er mir die Wange. Seine Zunge ist rau wie Sandpapier.
Ich krieche zum Bett und schiebe die Karte vollends darunter. Dann überlege ich es mir anders und ziehe sie hervor. Dr. Tollpatsch hat nicht übertrieben. Ich brauche zehn Minuten, um das Ding wieder zusammenzufalten.
Während ich mich nach einem geeigneten Versteck umschaue, frage ich mich, ob sie unter dem Bett nicht am besten aufgehoben wäre. Mein Zimmer ist ziemlich spartanisch eingerichtet. Da stehen einmal das Bett und daneben ein kleiner Tisch mit meinem Wecker, der Lampe und einem Buch über Pflanzenkunde, das ich durchgearbeitet habe. An der einzigen gemauerten Wand hängt mein Spiegel über einer Kommode mit Wäsche und einigen meiner Notizbücher mit Aufzeichnungen zu meinen Forschungen. Sie sind meist aus dem Bereich der Biologie, das Gebiet, mit dem ich mich nach Onkel Paolos Vorgaben am meisten beschäftige. Alais Sessel steht in einer Ecke zwischen zwei Glaswänden. In der anderen steht das Regal mit meinen Orchideen.
Mein begehbarer Kleiderschrank ist nicht viel besser. Die Kleider hängen alle auf Bügeln und ich überlege kurz, ob ich die Karte in einem Schuh verstecken soll. Doch dann denke ich, dass ich da als Erstes nachschauen würde, wenn ich im Schrank nach einer versteckten Karte suchen würde.
Nichts scheint geeignet. Ich hebe sogar den Deckel des Spülkastens in der Toilette hoch, doch darunter ist es zu feucht, um etwas zu deponieren – mit Ausnahme eines Frosches vielleicht… Ich erinnere mich, etwas in der Richtung getan zu haben, als ich ungefähr drei war.
Schließlich löse ich in der Ecke, in der Alais Sessel steht, den Teppich ein Stück weit vom Boden. Den Sessel von der Stelle zu rücken, stellt sich als ganz schön mühsam heraus. Er ist riesig und dick gepolstert und leider zählt »extrastark« nicht zu den Eigenschaften, die automatisch mit der Unsterblichkeit einhergehen. Doch der Teppich lässt sich leicht lösen und ich kann die Karte darunterschieben. Nachdem ich den Sessel wieder an Ort und Stelle gewuchtet habe, lasse ich mich daraufplumpsen und warte, dass meine Nerven aufhören zu flattern. Alai streckt sich vor mir auf dem Boden aus.
Dann sehe ich das Loch im Zaun.
7
Ein mittelgroßer Kapokbaum, der wenige Meter außerhalb des Zauns stand, ist umgefallen. Er fiel in Richtung Regenwald und ich sehe, dass seine Wurzeln aus dem Boden gerissen wurden. Der Maschendrahtzaun war mindestens dreißig Zentimeter tief im Boden verankert, doch die Wurzeln haben ihn mit herausgezogen. Unter dem nach oben gedrückten Zaun klafft jetzt ein Loch von ungefähr einem Meter Breite und siebzig Zentimetern Höhe. Hinter den Bromelien, die am Zaun entlang wachsen, ist es fast nicht zu erkennen, doch von meinem Blickwinkel aus sehe ich es gerade eben.
Ich kann selbst kaum glauben, was ich tue, doch ich erhebe mich und hole meine Taschenlampe aus der obersten Kommodenschublade.
»Komm, Alai.«
Was ist nur in dich gefahren?, frage ich mich, als ich mit Alai auf Zehenspitzen den Flur des Glashauses hinunterschleiche. Durch die Flurfenster sehe ich, dass die Gebäude in Richtung des Zentrums von Little Cam, wo eine Handvoll Nachteulen noch immer tanzen, das Licht der Fackeln reflektieren. Nur der Wohntrakt B, dessen dunkle Fenster anzeigen, dass fast alle dort schlafen, steht zwischen mir und den Überbleibseln meiner Geburtstagsparty. Ein paar Schritte würden genügen und man hätte freie Sicht auf das Glashaus.
Ich halte den Atem an. Stehen zu bleiben und die Konsequenzen meines verrückten Handelns zu überdenken, wage ich nicht. Ich
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