Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
kümmert mich nicht«, erwidert er. »Ich will dich, Pia. Du bist die Erste, die ist wie ich. Du gehörst überall dazu und nirgendwo. Bist keine Wissenschaftlerin und keine Ai’oanerin. Ein wildes Mädchen. Ein Dschungelmädchen. Und trotzdem entscheidest du dich für deinen Käfig.«
Im Widerstreit meiner Gefühle beiße ich mir auf die Lippe und widerstehe knapp der Versuchung, vor lauter Frust mit dem Kopf voraus in den Zaun zu rennen. »Geh nach Hause, Eio. Wenn sie dich hier sehen, schicken sie dich weg, und ich bezweifle, dass sie es auf die höfliche Art tun. Bitte geh.«
»Ich kann über den Zaun klettern und dich rausholen.«
»Kannst du nicht. Er steht unter Strom.«
Er schmollt und zuckt mit den Schultern.
Seufzend füge ich hinzu: »Es ist nicht so, dass ich dich oder deine Leute nicht mag. Ich mag euch. Wirklich, ich mag euch. Aber ich kann nicht mehr kommen. Das Loch ist zu. Es gibt keinen Weg hinaus.«
»Wenn du einen Weg wüsstest, würdest du dann kommen?«
»Wenn ich einen Weg wüsste, ja«, verspreche ich und frage mich, warum ich jedes Mal nachgebe, wenn er mich um etwas bittet, und Versprechungen mache, die mein Herz und meinen Verstand in unterschiedliche Richtungen ziehen. Was fasziniert dich so an mir, Junge, dass du mich nicht einfach in Ruhe lässt?
Wahrscheinlich dasselbe, das mich an ihm fasziniert. Aber das spreche ich nicht laut aus. »Geh nach Hause, Eio. Bitte.«
Er schaut mir lange in die Augen und ich frage mich, was er darin zu finden glaubt. Dann dreht er sich um und verschmilzt mit dem Dschungel. Mein Herz macht einen Ruck, als versuchte es, mich hinter ihm herzuziehen, aber der Zaun steht zwischen uns. Immer ist der Zaun zwischen uns. Am liebsten würde ich ihn packen und daran rütteln – der Strom kann mir ja nichts anhaben –, aber dann würde der Alarm ausgelöst und Onkel Timothy würde kommen und Fragen stellen…
Als ich zum Glashaus zurückgehe, fällt ein Regentropfen auf meine Wange und kullert auf meine Lippen. Er schmeckt salzig.
16
Am nächsten Tag soll ich die Blumen im Garten zwischen Laborblock A und Wohngebäude B skizzieren und danach ein Schaubild davon anfertigen. Stattdessen zeichne ich Gesichter. Ich habe eine Stunde Zeit für die Aufgabe von Onkel Smithy, aber mehr als eine Viertelstunde brauche ich dazu nicht. Wegen der Zeit mache ich mir deshalb keine Gedanken.
Als Erstes zeichne ich Onkel Antonio. Das haarige Gesicht mit dem eckigen Kinn habe ich schon viele Male gemalt. Mit seinem Bart ist er eines meiner Lieblingsmodelle und es macht mir Spaß, jedes einzelne, winzige Härchen mit Bedacht aufs Papier zu bringen. Ich zeichne auch Mutter und Onkel Will, doch ihre Porträts langweilen mich. Ich kann nicht so gut zeichnen wie Onkel Smithy, der talentierteste Künstler in Little Cam. Er sagt immer, mein Auge fürs Detail sei mein Untergang. Ich würde mich zu sehr auf die einzelnen Aspekte einer Person konzentrieren und zu wenig auf die Gesamterscheinung.
Nur zum Spaß blättre ich zu einer leeren Seite und beginne herumzukritzeln, ohne ein bestimmtes Gesicht vor Augen zu haben. Alles ist besser als noch ein Orchideenblatt zu malen, was ich ohnehin aus dem Gedächtnis tun könnte.
Während ich zeichne, gehen meine Gedanken auf Wanderschaft und mein Stift gleitet wie von selbst übers Papier. Ich denke an Eio, wie er im Regen auf der anderen Seite des Zauns steht; es ist jetzt drei Tage her, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Ich denke an Tante Harriet, mit deren Hilfe meine Nacht in Dschungel unentdeckt blieb, und daran, wie wütend Onkel Paolo wäre, wenn er dahinterkäme. Ich denke an die verschlossene Tür im Laborblock B, an die geheimnisvollen Räume dahinter und frage mich, was es tatsächlich mit ihnen auf sich hat.
Als ich von meinem Gedankenspaziergang zurückkehre und auf meinen Skizzenblock blicke, sehe ich Eios Gesicht zu mir aufschauen. Erschrocken gucke ich mich um, ob mich jemand beobachtet hat. Dann betrachte ich fasziniert mein Werk.
In diesem Bild steckt mehr Leben als in jedem anderen, das ich bisher gezeichnet habe. Vielleicht ist mir endlich gelungen, was Onkel Smithy »der Kreativität freien Lauf lassen« nennt, und ich habe jenen künstlerischen Schwung gefunden, in dem kreatives Schaffen spontan und natürlich erfolgt. Eios Blick ist fast so tiefgründig und voller Leben wie in der Nacht in Ai’oa und ich habe plötzlich das Gefühl, dass er selbst mich ansieht und nicht ein Bild.
Als ich Stimmen
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