Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
höre, blättre ich die Seite rasch um. Onkel Antonio und Tante Harriet kommen den überdachten Weg herunter, der sämtliche Gebäude in Little Cam miteinander verbindet. Tante Harriet hat sich bei Onkel Antonio untergehakt.
Sie sehen mich und winken. Tante Harriet flüstert ihm etwas zu und kommt zu mir herüber. Onkel Antonio sieht ihr noch einen Moment lang nach, dann geht er weiter zu den Labors.
»Pia! Hallo, Liebes. Was machst du?«
»Zeichnen.« Ich drücke den Skizzenblock an mich.
»Darf ich?«
»Hm… okay.« Ich gebe ihr alle Skizzen bis auf die von Eio.
Sie nickt und macht hm-hm beim Betrachten. Bei der von Onkel Antonio verweilt sie am längsten. »Sie sind ziemlich gut. Ein bisschen… trocken… aber gut. Du musst Gefühl dazugeben, damit sie wirklich großartig werden. Wie die Mona Lisa.«
»Wer ist das?«
»Eine Frau, von der dein Onkel Paolo wahrscheinlich nicht will, dass du ihr begegnest. Was ist das?« Sie zeigt auf das Blatt, das ich noch in der Hand halte.
»Oh, nichts… es ist noch nicht fertig.«
»Lass sehen!«
Ich will mich schon weigern, doch dann werde ich schwach. Wahrscheinlich muss eine Seite von mir sich mitteilen und von allen Leuten in Little Cam erscheint es bei Tante Harriet am unwahrscheinlichsten, dass sie damit zu Onkel Paolo rennt. Aber ich werde ihr nicht sagen, wer es ist. Das nicht. Das ist zu privat.
Sie nimmt das Blatt und betrachtet es eine Weile nickend. »Das kommt eher hin. Da ist Gefühl drin.«
»Meinst du?« Ich blicke über ihre Schulter.
»Aber ja. An deiner Stelle würde ich das heute beim Unterricht keinem zeigen. Könnte Fragen aufwerfen. Mann oh Mann, das ist ja ein Adonis.«
»Ein was?«
»Ein…« Sie macht eine unbestimmte Handbewegung in Richtung der Zeichnung. »Ein heißer Typ.«
Ich betrachte noch einmal Eios Gesicht. Mir wird warm.
»Neben so einem Gesicht möchte man gern aufwachen, wenn du weißt, was ich meine«, seufzt Tante Harriet. »Wer ist er?«
»Er heißt Eio –« Ich lege rasch die Hand auf den Mund. Pia, du Idiot! Was hast du getan! Wenn das mal kein Kontrollverlust ist… Keine Ahnung, weshalb ich es gesagt habe. Vielleicht ist das Bedürfnis mich mitzuteilen stärker als ich dachte. Wäre ich allein, würde ich mir selbst eine Ohrfeige geben, weil ich so blöd und leichtsinnig war.
Jetzt habe ich Tante Harriets volle Aufmerksamkeit. Sie baut sich direkt vor mir auf, eine Augenbraue fast bis zum krausen Haaransatz hinaufgezogen. »Aha?«
»Bitte gib mir das Blatt zurück. Es hat nichts zu bedeuten. Nur ein Fantasie…«
Sie gibt es mir, doch ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Es kriecht von den Mundwinkeln hinauf zu den Augen wie eine rote Raupe auf einem Blatt, langsam, aber nicht aufzuhalten. »Eine solche Fantasie bei einem Mädchen, das noch kaum einen Mann unter dreißig gesehen hat!«
»Stimmt gar nicht«, protestiere ich, doch meine Stimme verrät alles. Ich bin so ein Oberidiot! »Du sagst es nicht weiter?«
»Ich lege es in die Schachtel unter meinem Bett mit der Aufschrift: ›Die geheimen Bekenntnisse der unsterblichen Pia‹. Gütiger Himmel, Mädchen, mach nicht so ein entsetztes Gesicht. Es gibt diese Schachtel nicht wirklich!«
Ich raffe die anderen Zeichnungen zusammen und überlege, wie ich sie loswerden kann. Es ist nichts Verfängliches am Gesicht meines Vaters, aber ich will die ganze Porträtsache abhaken. Aus einem Abfalleimer könnte sie jeder wieder herausziehen. Was ich brauche, ist Feuer.
»Gib sie her«, verlangt Tante Harriet.
Ich bin so durcheinander, dass ich sie ihr tatsächlich gebe. Sie schaut sich beiläufig um, doch wir sind immer noch allein. Sie geht zum Fischteich und lässt die Blätter ins Wasser fallen. In wenigen Augenblicken sind die Zeichnungen so verschwommen, dass nichts mehr zu erkennen ist. Es können genauso gut harmlose Skizzen von Farnblättern sein.
»Ich wollte ihn nicht zeichnen«, flüstere ich. »Ich hab nur so rumgekritzelt und nicht aufgepasst.«
»Typisch Tagträumer«, stellt sie fest und fischt die nassen Blätter aus dem Teich. »Ich hatte eine Schulfreundin, die während des Geschichtsunterrichts die ganze Zeit aus dem Fenster gestarrt und geistesabwesend Flüche auf ihren Klausurbogen gekritzelt hat. Unnötig zu erwähnen, dass sie das Schuljahr wiederholen musste.«
»Ich habe nie Geschichtsunterricht gehabt«, erwidere ich, auch wenn diese Tatsache mit meinem derzeitigen Dilemma absolut nichts zu tun hat. In meinem ganzen Leben
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