Die einzige Wahrheit
an. Sie haben Ihren Vater belogen, um Ihren Bruder in seinem College besuchen zu können. Sie besuchen ihn, seit Sie zwölf waren?«
»Ja.«
»Und jetzt sind Sie achtzehn.«
»Ja.«
»Ist Ihr Vater in den sechs Jahren jemals dahintergekommen, daß Sie Ihren Bruder besucht haben?«
»Nein.«
»Sie haben ihn einfach immer belogen, nicht wahr?«
»Ich habe nicht gelogen«, sagte Katie. »Er hat nie gefragt.«
»In sechs Jahren hat er nicht ein einziges Mal gefragt, wie Ihr Wochenende bei Ihrer Tante war?«
»Mein Vater spricht nicht über meine Tante.«
»Was für ein Glück. Zudem haben Sie Ihrem Bruder verschwiegen, daß Sie mit seinem Vermieter geschlafen haben, nicht wahr?«
»Er –«
»Nein, lassen Sie mich raten. Er hat nie gefragt, stimmt’s?«
Verwirrt schüttelte Katie den Kopf. »Nein, hat er nicht.«
»Sie haben Adam Sinclair nicht erzählt, daß Sie ein Kind von ihm erwartet haben?«
»Er war in Europa.«
»Sie haben weder Ihrer Mutter noch sonst jemandem von Ihrer Schwangerschaft erzählt?«
»Nein.«
»Und als die Polizei an dem Morgen nach der Entbindung kam, haben Sie auch die belogen.«
»Ich war nicht sicher, ob es wirklich passiert war«, sagte Katie mit dünner Stimme.
»Ach, ich bitte Sie. Sie sind achtzehn Jahre alt. Sie haben mit einem Mann geschlafen. Sie wußten, daß Sie schwanger waren, auch wenn Sie es nicht zugeben wollten. Sie haben unzählige Male erlebt, daß Frauen in Ihrer Gemeinde Kinder bekommen haben. Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, Sie hätten nicht gewußt, was in jener Nacht mit ihnen los war?«
Katie weinte lautlos. »Ich kann nicht erklären, was in mir vor sich ging, nur daß es nicht normal war. Ich wußte nicht, was wirklich passiert war und was nicht. Ich wollte nicht glauben, daß es vielleicht kein Traum gewesen war.« Sie verdrehte den Saum ihrer Schürze zwischen den Fäusten. »Ich weiß, ich habe etwas Unrechtes getan. Ich weiß, daß ich jetzt endlich die Verantwortung übernehmen muß für das, was passiert ist.«
George beugte sich so nahe an sie heran, daß ihr seine Worte gleichsam in den Schoß fielen. »Dann erzählen Sie uns, was Sie getan haben.«
»Ich kann nicht darüber reden.«
»Ach ja, stimmt. Genauso, wie Sie gedacht haben, wenn Sie nicht über Ihre Schwangerschaft sprechen, würde sie sich in Luft auflösen. Und genauso, wie Sie nicht erzählt haben, daß Sie Ihr Baby ermordet haben, weil Sie dachten, dann kommt niemand dahinter. Aber so funktioniert das nicht, oder, Katie? Auch wenn Sie uns nicht sagen, wie Sie Ihr Baby getötet haben, ist es dennoch tot, nicht wahr?«
»Einspruch«, rief Ellie. »Er setzt die Zeugin unnötig unter Druck.«
Katie war in sich zusammengesunken und schluchzte haltlos. Georges Augen huschten einmal über sie hinweg, dann wandte er sich ab. »Ich ziehe die letzte Frage zurück. Ich bin hier fertig«, sagte er abschätzig.
Richterin Ledbetter seufzte. »Fünfzehn Minuten Pause. Ms. Hathaway, wie wär’s, wenn Sie mit Ihrer Mandantin irgendwo hingehen, wo sie sich wieder beruhigen kann?«
»Natürlich«, sagte Ellie und fragte sich, wie sie Katie helfen sollte, die Fassung zurückzugewinnen, wo sie sie selbst langsam, aber sicher verlor.
Der Besprechungsraum war dunkel und schäbig, mit defekten Neonröhren, die flackerten, ohne brauchbares Licht abzugeben. Ellie setzte sich an einen häßlichen Holztisch und fuhr mit den Fingern über einen Kaffeefleck, der wahrscheinlich ebenso alt war wie Katie. Ihre Mandantin stand an der Wandtafel vorne im Raum und weinte.
»Ich würde gern Mitgefühl für dich aufbringen, Katie, aber du hast es nicht anders gewollt.« Ellie drehte Katie den Rücken zu. Wenn sie sie nicht ansah, war das Schluchzen vielleicht nicht so laut. Und ging ihr nicht so an die Nieren.
»Ich wollte doch nur, daß es vorbei ist«, stammelte Katie, das Gesicht verquollen und rot. »Aber es war nicht so, wie ich gedacht hatte.«
»Ach nein? Was hast du denn erwartet – ein Happy-End mit Musik; du brichst zusammen, und die Geschworenen schließen dich in die Arme?«
»Ich wollte bloß, daß man mir vergibt.«
»Tja, danach sieht es im Augenblick aber gar nicht aus. Nach deinem Auftritt vorhin kannst du deine Freiheit in den Wind schreiben, Kleines. Du kannst dir alles abschminken, die Vergebung durch deine Gemeinde, den Kontakt mit deinen Eltern oder eine Beziehung zu Adam.«
»Samuel hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will«, flüsterte Katie kläglich.
Ellie
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