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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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weiß.«
    »Es ist schlecht für das Baby.«
    Ein Muskel zuckte an Ellies Hals. »Sag du mir nicht, was schlecht für mein Baby ist«, entgegnete sie. »Dazu hast du kein Recht.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging die Treppe hinab, den Quilt an die Brust gedrückt wie einen Schild, als wäre es nicht zu spät, ihr Herz zu schützen.
    Ellie stand im Zimmer der Richterin, betrachtete die juristischen Abhandlungen und die Holzvertäfelung, den dicken Teppich – alles, nur nicht Richterin Ledbetter, die gerade die Haftungsausschlußerklärung überflog.
    »Ms. Hathaway«, sagte sie einen Moment später. »Was geht hier vor?«
    »Meine Mandantin besteht darauf auszusagen, obwohl ich ihr davon abgeraten habe.«
    Die Richterin starrte Ellie an, als könnte sie an ihrer ausdruckslosen Miene ablesen, was für heftige Auseinandersetzungen sich am Abend zuvor abgespielt hatten. »Gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie ihr davon abgeraten haben?«
    »Ich denke, das wird aus ihrer Aussage hervorgehen«, sagte Ellie. George, der angemessen erfreut wirkte, nahm eine etwas geradere Haltung an. »Also schön«, seufzte die Richterin. »Bringen wir’s hinter uns.«
    Wenn man amisch aufgewachsen war, wußte man, daß Augen ein Gewicht hatten, daß Blicke Substanz hatten, daß sie sich manchmal wie ein Atemhauch auf der Schulter anfühlten und dann wieder wie ein Speer, der einem das Rückgrat durchbohrte. Doch in Lancaster kamen die Blicke für gewöhnlich vereinzelt – mal ein Tourist, der den Hals reckte, um sie besser sehen zu können, mal ein Kind, das im Kramladen neugierig zu ihr hochschaute. Als Katie jedoch im Zeugenstand saß, war sie wie gelähmt von den bohrenden Blicken, die allesamt auf ihr ruhten. Hundert Leute gafften gleichzeitig, und war es ihnen zu verdenken? Es kam schließlich nicht alle Tage vor, daß eine Amische einen Mord gestand.
    Sie wischte sich die schwitzenden Hände an ihrer Schürze ab und wartete, daß Ellie anfing, ihre Fragen zu stellen. Sie hatte gehofft, daß Ellie es ihr in diesem Moment leichter machen würde – daß Katie sich vielleicht sogar hätte einreden können, sie wären unter sich, würden sich am Teich unterhalten. Aber Ellie hatte den ganzen Morgen kaum mit ihr geredet. Sie hatte sich auf dem Klo übergeben, eine Tasse Kamillentee getrunken und dann, ohne Katie anzuschauen, gesagt, sie müßten los. Nein, von Ellie hatte sie heute keine Rücksicht zu erwarten.
    Ellie knöpfte ihren Blazer zu und stand auf. »Katie«, sagte sie sanft, »wissen Sie, warum Sie heute hier sind?«
    Katie blinzelte erstaunt. Ihre Stimme, ihre Frage – sie war zärtlich, voller Verständnis. Erleichterung überkam sie, und sie wollte lächeln – doch dann sah sie in Ellies Augen. Ihr Blick war noch genauso hart und zornig wie am Abend zuvor. Dieses Mitgefühl – es war alles nur Theater. Selbst jetzt versuchte Ellie immer noch, einen Freispruch für sie zu erreichen.
    Katie holte tief Luft. »Die Leute glauben, ich habe mein Baby getötet.«
    »Wie geht es Ihnen dabei?«
    Wieder sah sie den winzigen Körper zwischen ihren Beinen, glitschig von ihrem Blut. »Schlecht«, flüsterte sie.
    »Sie wissen, daß die Beweise Sie schwer belasten.«
    Mit einem kurzen Blick auf die Geschworenen nickte Katie. »Ich habe genau zugehört, was hier gesagt wurde. Aber ich habe nicht alles verstanden.«
    »Was haben Sie nicht verstanden?«
    »Ihr Englischen macht so vieles ganz anders, als ich es gewohnt bin.«
    »Inwiefern?«
    Sie überlegte einen Moment. Das Bekenntnis, das war genauso, sonst würde sie jetzt nicht hier sitzen. Aber die Englischen urteilten über einen Menschen, damit sie die Rechtfertigung hatten, ihn aus ihrer Gemeinschaft auszustoßen. Die Amischen urteilten über einen Menschen, damit sie die Rechtfertigung hatten, ihn wieder in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. »Wenn bei uns jemandem eine Sünde zur Last gelegt wird, dann nicht, damit andere ihm Schuld zuweisen können, sondern damit er Wiedergutmachung leisten und dann wieder ein normales Leben führen kann.«
    »Haben Sie gesündigt, als Sie Ihr Kind empfangen haben?«
    Unwillkürlich nahm Katie eine demütige Haltung an. »Ja.«
    »Wieso?«
    »Ich war nicht verheiratet.«
    »Haben Sie den Mann geliebt?«
    Unter gesenkten Wimpern ließ Katie den Blick über die Zuschauer schweifen, bis sie Adam entdeckte. Er hielt den Kopf gesenkt, als wäre er ebenfalls hier, um zu bekennen. »Sehr«, murmelte Katie.
    »Hat Ihre Gemeinde Ihnen diese

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