Die einzige Wahrheit
die Tatsache, daß auf ihrer Farm ein totes Neugeborenes gefunden wurde –, aber es gibt keine Aussagen von Augenzeugen, was zwischen der Geburt und dem Tod des Kindes geschehen ist. Bis zum Gerichtsverfahren meiner Mandantin werden wir nicht wissen, wie oder warum dieser Todesfall eintrat.«
Sie lächelte den Richter an. »Tatsächlich gibt es vier Gründe, warum in diesem Fall eine Kaution gewährt werden sollte. Erstens, die junge Frau ist eine Amisch und wird eines Gewaltverbrechens beschuldigt, obwohl es historisch betrachtet in der amischen Glaubensgemeinschaft keine Gewalt gibt. Zweitens, da sie eine Amisch ist, sind ihre sozialen Bindungen sehr viel stärker als bei den meisten anderen Angeklagten. Aufgrund ihrer Religion und ihrer Erziehung scheidet jede Fluchtgefahr aus. Drittens, sie ist gerade mal achtzehn Jahre alt und verfügt über keinerlei finanzielle Mittel für einen Fluchtversuch. Und schließlich, sie ist nicht vorbestraft – und nicht nur das, es ist das erste Mal, daß sie überhaupt in irgendeiner Weise mit dem Rechtssystem in Berührung kommt. Euer Ehren, ich schlage vor, daß sie unter strengen Kautionsbedingungen auf freien Fuß gesetzt wird.«
Richter Gorman nickte nachdenklich. »Wären Sie bereit, uns diese Bedingungen zu nennen?«
Ellie holte tief Luft. Das würde sie liebend gern tun, aber sie hatte sich noch keine überlegt. Sie warf einen raschen Blick hinüber zu Leda und Frank und der amischen Frau, die zwischen ihnen saß. »Euer Ehren, wir bitten um Entlassung aus der Untersuchungshaft unter folgenden Bedingungen: Katie Fisher verpflichtet sich, East Paradise nicht zu verlassen, sich ausschließlich auf der Farm ihrer Eltern aufzuhalten, und zwar stets unter Aufsicht von mindestens einem Familienangehörigen. Was die Höhe der Kaution angeht, so halte ich eine Summe von 20 000 Dollar für angemessen.«
Der Staatsanwalt lachte auf. »Euer Ehren, das ist doch lächerlich. Eine Kautionsverordnung ist eine Kautionsverordnung, und vorsätzlicher Mord ist vorsätzlicher Mord. Das gilt auch für spektakuläre Strafrechtsprozesse in Philadelphia, also kann Ms. Hathaway sich nicht auf Unkenntnis berufen. Wenn die Beweislage nicht klar wäre, hätten wir die Anklage nicht in der Form erhoben. Katie Fisher sollte eindeutig nicht gegen Kaution freigelassen werden.«
Der Richter ließ den Blick langsam vom Staatsanwalt über die Verteidigerin zu Katie wandern. »Wissen Sie, als ich heute morgen hierherkam, hatte ich ganz und gar nicht die Absicht, das zu tun, was ich jetzt tun werde. Aber wenn ich Ihre Bedingungen auch nur in Erwägung ziehe, Ms. Hathaway, dann muß ich sicher sein, daß jemand die Verantwortung für Katie Fisher übernimmt. Ich will das Ehrenwort ihres Vaters haben, daß sie vierundzwanzig Stunden am Tag beaufsichtigt wird.« Er wandte sich dem Zuschauerraum zu. »Mr. Fisher, würden Sie sich bitte melden?«
Leda stand auf und räusperte sich. »Er ist nicht hier, Euer Ehren.« Sie zerrte heftig am Arm ihrer Schwester, bis auch sie aufstand. »Das ist Katies Mutter.«
»Also schön, Mrs. Fisher. Sind Sie bereit, die volle juristische Verantwortung für Ihre Tochter zu übernehmen?«
Sarah starrte auf ihre Füße und sprach so leise, daß der Richter sich anstrengen mußte, um sie zu verstehen. »Nein«, gestand sie.
Richter Gorman blickte verblüfft. »Wie bitte?«
Sarah hob den Kopf, mit Tränen in den Augen. »Ich kann nicht.«
»Aber ich, Euer Ehren«, sagte Leda.
»Wohnen Sie bei der Familie?«
Sie zögerte. »Ich könnte bei ihnen einziehen.«
Sarah schüttelte den Kopf und flüsterte eindringlich: »Das würde Aaron nie erlauben!«
Der Richter trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte. »Ist hier irgend jemand, der mit Ms. Fisher verwandt ist und bereit wäre, rund um die Uhr die Verantwortung für sie zu übernehmen, jemand, der keine Probleme mit ihrem Glauben oder ihrem Vater hat?«
»Ich werde das machen.«
Richter Gorman wandte sich Ellie zu, die genauso überrascht schien, daß sie die Worte ausgesprochen hatte, wie der Richter es war, sie zu hören. »Das ist sehr engagiert von Ihnen, Ms. Hathaway, aber wir brauchen eine Familienangehörige.«
»Ich weiß«, sagte Ellie. »Ich bin ihre Cousine.«
4
Ellie
A ls George Callahan aufsprang und lautstark Einspruch erhob, mußte ich mich selbst davon abhalten, ihn zu unterstützen. Herrgott, was war bloß in mich gefahren? Ich war völlig ausgelaugt nach East Paradise gekommen
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