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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Gerichtssaal gehört hatte. Vielleicht ein Bruder. Doch dann fiel mir auf, wie er Katie anstarrte, alles andere als brüderlich. Ich sah zu Katie hinüber und bemerkte, daß sie ihn nicht auf die gleiche Weise ansah.
    Plötzlich hörte ich ein Wort, das ich wiedererkannte – meinen eigenen Namen. Sarah deutete auf mich, lächelte verkrampft, und der blonde Mann nickte. Er nahm meine Koffer aus dem Auto, stellte sie neben mir ab und streckte mir seine Hand entgegen. »Ich bin Samuel Stoltzfus«, sagte er. »Danke, daß Sie sich um meine Katie kümmern.«
    Registrierte er, wie Katie erstarrte, als er sie »meine Katie« nannte? Registrierte es irgend jemand außer mir?
    Hinter mir ertönte das metallische Trappeln von Hufen und das Klirren von Pferdegeschirr, und als ich mich umwandte, sah ich, wie jemand ein Pferd in den Stall führte. Der Mann wirkte sehnig und muskulös und hatte einen vollen, roten Bart, in dem sich erste graue Strähnen zeigten. Er trug eine schwarze Hose und ein blaßblaues Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Er schaute zu uns herüber, runzelte kurz die Stirn, als er Ledas Wagen erkannte und ging dann in den Stall. Kurz darauf tauchte er wieder auf.
    Er ging schnurstracks auf Sarah zu und fing an, leise, aber bestimmt in der fremden Sprache mit ihr zu sprechen. Sarah neigte den Kopf, ein Weidenzweig im Wind. Doch dann trat Leda vor und redete auf ihn ein. Sie deutete auf Katie und auf mich und schüttelte die Fäuste. Mit vor Entrüstung funkelnden Augen legte sie beide Hände auf meine Schultern und schob mich nach vorn, unter den prüfenden Blick von Aaron Fisher.
    Ich hatte erlebt, wie Männer förmlich aus sich heraustraten, als sie zu lebenslänglich verurteilt wurden. Ich hatte die Leere in den Augen einer Zeugin gesehen, als sie schilderte, wie sie überfallen wurde; doch noch nie hatte ich eine solche innerliche Distanz wahrgenommen wie im Gesicht dieses Mannes. Er riß sich zusammen, als würde er in tausend Stücke zerspringen, wenn er seinen Schmerz eingestand; als wären wir seit ewigen Zeiten Gegner; als wüßte er tief in seinem Innersten, daß er schon geschlagen war.
    Ich streckte ihm die Hand entgegen. »Sehr erfreut.«
    Aaron Fisher wandte sich ab, ohne mich zu berühren. Er ging auf seine Tochter zu, und die Welt um ihn herum versank, so daß ich, als er seine Stirn gegen Katies legte und ihr mit Tränen in den Augen etwas zuflüsterte, diskret den Kopf senkte. Katie nickte, und als sie dann zum Haus gingen, hatte ihr Vater den Arm fest um ihre Schultern gelegt.
    Samuel, Sarah und Leda folgten ihnen, aufgeregt in ihrer Sprache redend. Ich blieb allein in der Einfahrt stehen. Es wehte ein leichter Wind, und aus dem Stall drang das Stampfen und Wiehern eines Pferdes.
    Ich setzte mich auf einen Koffer und starrte das Haus an. »Ja«, sagte ich leise. »Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen.«
    Zu meinem Erstaunen sah es bei den Fishers gar nicht so anders aus als damals in meinem Elternhaus. Auf dem Holzboden waren Flickenteppiche verteilt, eine bunte Quiltdecke lag zusammengefaltet über der Rückenlehne eines Schaukelstuhls, in einem mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Geschirrschrank standen Schüsseln und Teetassen aus Delfter Porzellan. Ich glaube, ich hatte erwartet, in die Welt von Unsere kleine Farm zurückversetzt zu werden – schließlich kam ich zu Menschen, die bereitwillig auf alle Bequemlichkeiten verzichteten. Aber es gab einen Herd, einen Kühlschrank und sogar eine Waschmaschine, auch wenn sie so aussah wie die meiner Großmutter in den fünfziger Jahren. Meine Verwunderung stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn plötzlich war Leda neben mir. »Hier läuft fast alles mit Gas. Sie haben nichts gegen die Geräte, nur gegen die Elektrizität. Von öffentlichen Kraftwerken Strom zu beziehen – na ja, das bedeutet, daß man mit der Welt da draußen verbunden ist.« Sie deutete auf eine Lampe und zeigte mir die dünne Leitung, die zu dem Propantank unter dem Lampenfuß führte. »Aaron wird dich hier wohnen lassen. Es gefällt ihm zwar nicht, aber er tut es.«
    Ich verzog das Gesicht. »Wunderbar.«
    »Das wird es auch«, sagte Leda lächelnd. »Ich glaube, du wirst noch öfters überrascht sein.«
    Die anderen waren in der Küche geblieben und hatten mich mit Leda in einer Art Wohnzimmer allein gelassen. Auf Regalen standen Bücher, deren Titel ich nicht verstand, Pennsylvaniadeutsch, wie ich vermutete. An einer Wand hing

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