Die einzige Zeugin
deinem Geburtstag. Bis zu diesem neuen Brief.«
Jessica hielt ihr die Mappe hin, und Lauren nahm sie. Das Plastik war hart und hatte scharfe Kanten. Sie runzelte die Stirn. Dieser eine Brief ihres Vaters hatte ihr schon gereicht. Musste sie noch mehr lesen?
»Donny hat mir schon seit Jahren gesagt, dass ich sie dir geben sollte, aber irgendwie war nie der richtige Moment. Naja, jetzt geht sowieso alles drunter und drüber … jedenfalls hat er recht. Du bist siebzehn. Du sollst sie jetzt haben.«
Lauren legte die Mappe aufs Bett und hielt ihr den geöffneten Brief hin.
»Mein Vater schreibt, dass er wieder in Berufung gehen wird«, sagte sie.
Jessica schüttelte den Kopf.
»Doch, schreibt er wirklich«, bekräftigte Lauren, weil sie meinte, Jessica glaubte ihr nicht.
»Nein«, sagte Jessica und hob abwehrend die Hand, »ich meine nicht, dass ich es nicht glaube. Es ist nur … ich will nicht über ihn reden. Ich kann einfach nicht.«
»Okay, ist ja gut«, sagte Lauren beschwichtigend. Sie fühlte sich unwohl.
Jessica stand auf und drehte sich zur Tür, überlegte es sich dann aber anders und setzte sich wieder.
»Ich kann nicht mal an ihn denken, ohne dass mir schwindlig wird. Ich weiß, er ist dein Vater, aber er hat mir meine Schwester und meine Nichte genommen.«
»Ich weiß«, sagte Lauren und spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog.
»Deine Mutter war kein einfacher Mensch. Sie war schwierig, ängstlich und rechthaberisch. Aber sie hat mir alles bedeutet, sie war meine Schwester, meine Mutter, meine Freundin.«
»Ich weiß, dass ihr euch sehr nahe wart.«
Jessica blinzelte und rieb sich die Augen. Als sie sie wieder öffnete, waren sie glasig vor Tränen.
»Schau mich bloß an! Zehn Jahre später, und ich heule immer noch.«
»Das tue ich auch«, sagte Lauren.
»Ja, und das ist ganz normal. Sie war eine wunderbare Mutter. Und die arme kleine Daisy, sie war noch nicht mal ein Jahr alt …«
Lauren nickte stumm. Ihre Gefühle waren zu stark, um Worte zu finden.
»In den letzten Monaten vor ihrem Tod ging es ihr nicht gut. Slater hatte sie verlassen, dann kam er zurück, dann verließ er sie wieder. Es war eine Folter. Sie wusste nie, woran sie bei ihm war. Ich habe ihr gesagt, sie solle sich einen anderen suchen. Sie war eine attraktive Frau. Ein bisschen zu dünn, aber hübsch, und wenn sie gut gelaunt war, konnte sie sehr lustig und umgänglich sein. Sie brauchte einfach jemanden, der sie liebte, und alles, was sie hatte, war Slater. Es tut mir leid. Ich weiß, er ist dein Vater, aber jedes Mal, wenn ich an ihn denke, will ich einen Teller an die Wand werfen. Wenn er noch einmal in Berufung geht, will ich nichts davon wissen. Für mich ist der Mann gestorben.«
Jessica verstummte und starrte vor sich hin. Lauren strich ihr über den Arm. Die Stirn ihrer Tante war gerunzelt, ihr Mund angespannt.
»Ich hätte nicht nach Spanien gehen sollen«, sagte sie. »Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen.«
Von draußen drang ein Geräusch ins Zimmer, ein kleiner Schrei. Kleopatra maunzte nach ihrem Futter. Lauren sah vor sich, wie die Kätzchen hinter dem Sofa herumstolperten und sich fragten, wohin ihre Mutter verschwunden war. Jessica stand auf, öffnete die Tür und sah nach draußen.
»Es wird vielleicht in der Zeitung stehen«, sagte Lauren.
»Ich werde der Sache aus dem Weg gehen. Wenn du schlau bist, tust du das auch.«
Das Maunzen wurde eindringlicher, und Jessica wurde unruhig.
»Ich sollte jetzt mal die Katze füttern«, seufzte sie.
Lauren nickte. Sie hörte Jessica die Treppe hinuntergehen und in einer lustigen hohen Stimme mit Kleopatra sprechen. Sie drehte die rosa Mappe um und öffnete den Druckknopf. Sie nahm den Brief und warf einen letzten Blick darauf, bevor sie ihn zurück in den Umschlag steckte. Ihre Augen blieben am letzten Absatz hängen:
Ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was mit mir passiert ist. Ich werde dir nie die Schuld daran geben. Niemals.
Die Worte machten sie wütend. Die unbestimmten Gefühle in ihrer Brust schienen sich zu verhärten. Er gab ihr keine Schuld . An was? Woran sollte sie schuld sein? Sie hatte einfach nur die Wahrheit gesagt. Sie hatte gesagt, was sie gesehen hatte, was geschehen war. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte es keinen Augenzeugen gegeben, niemand hätte es erzählen können. Sie stopfte den Brief in die rosa Mappe, klappte sie zu und drückte auf den Knopf, bis er sich mit einem Klicken schloss.
Sie hatte überlebt. Wie
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