Die einzige Zeugin
Wenn sie die Zöpfe löste, fiel es in Wellen herab.
Jetzt strich sie es sich aus dem Gesicht und band es im Nacken mit einem Gummi zusammen.
Das Geräusch der Haustür ließ sie aufhorchen.
»Ich gehe noch mal weg«, rief Jessica.
Lauren steckte ihren Kopf zur Tür heraus.
Jessica hatte sich schön gemacht. So hatte Lauren sie schon lange nicht mehr gesehen. Sie trug ein neues, leuchtend blaues Kleid. Es reichte ihr bis zum Knie, der Rock fiel leicht und glockig. Ihre Beine waren nackt und sie trug hohe Absätze. Sie hatte sich die Haare frisch gewaschen und geföhnt und sie hatte sich geschminkt.
»Wohin gehst du?«
»Ich treffe mich mit Donny. Wir müssen noch einmal ernsthaft miteinander reden. Er muss sich jetzt entscheiden.«
»Hat er angerufen? Ist etwas passiert?«
»Nein, aber ich glaube, dass es das Beste ist.«
»Oh, Jess, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
»Ich warte nicht mehr. Ich hänge nicht länger hier herum und hoffe, dass Donny sich für mich entscheidet und gegen diese neue Frau. Es reicht. Ich muss es jetzt wissen, ein für allemal.«
»Es sind gerade mal fünf oder sechs Wochen. Wir haben doch gesagt, dass wir ihm etwas Zeit lassen.«
» Du hast das gesagt. Es ist ja auch egal, die Affäre läuft ja schon viel länger. Vermutlich lief sie schon, als wir noch in St. Agnes waren. Er hat genug Zeit gehabt, sich zu entscheiden. Jede Menge Zeit!«
Sie ging die Treppe hinunter, ihr blaues Kleid flatterte hinter ihr her. Lauren hatte ein ungutes Gefühl in der Brust.
»Warte, ich komme mit«, sagte sie. Sie folgte ihr nach unten und nahm ihre Jacke von der Garderobe.
Jessica lief schnell die Straße entlang und bog um die Ecke. Lauren war mehrere Schritte hinter ihr und wünschte, sie wäre zu Hause, in der Schule, egal wo, nur nicht hier auf dieser Mission mit ihrer Tante. Es war heiß, die Sonne brannte auf die Straße. Hätte sie doch nicht auch noch die Jacke angezogen. Der linke Ärmel ihres T-Shirts war in der Jacke nach oben gerutscht und drückte. Sie fühlte sich unwohl.
»Warte doch mal, Jess«, rief sie und rannte hinter ihr her.
Jessica marschierte zielstrebig weiter und bog, ohne zu zögern, um eine weitere Ecke. Sie schien den Weg bereits genau zu kennen. Lauren fragte sich, ob sie Donny schon einmal in seiner neuen Wohnung besucht hatte. Donny hatte nichts davon gesagt, als er das letzte Mal bei ihnen gewesen war. Ihr kam ein unangenehmer Gedanke. Vielleicht hatte Jessica auf der anderen Straßenseite gestanden und Donnys Wohnung beobachtet, so wie sie vor dem Haus in der Hazelwood Road.
»Warte!« Besorgt lief sie noch etwas schneller.
Donnys neue Wohnung befand sich in einem kleinen Mehrfamilienhaus am Regent’s Canal. Es war ein modernes Gebäude mit einer Verkleidung aus Holz und Metall, das sich von den roten Backsteinfassaden der älteren Wohnhäuser abhob. In der Straße waren mehrere Geschäfte hinter hohen Zäunen. Schilder kündigten zukünftige Bauprojekte oder Sanierungen an, neue Apartments und ein Fitnesscenter. Das Haus, in dem Donny wohnte, wirkte dagegen klein und etwas verloren. Lauren fragte sich, in welchem Stock er wohl wohnte. Jessica musste nicht nach dem Namen suchen, bevor sie auf die Klingel drückte. Sie sagte laut und schnell etwas in die Sprechanlage. Ein scharfes Summen ertönte und Jessica drückte die schwere Glastür auf. Lauren folgte ihr.
Sie gingen einen dunklen Gang entlang zum hinteren Teil des Hauses. Eine Tür öffnete sich, und Donny trat ihnen entgegen. Jessica blieb stehen, und Lauren hielt den Atem an. Irgendetwas lag in der Luft, gleich würde etwas passieren. Es war die Schwere eines heißen Tages, der stickige Flur, das Gefühl, eingeengt zu sein. Fühlte Jessica das auch? Ihre Tante hielt sich immer noch sehr gerade. Ihr blaues Kleid leuchtete selbst im Halbdunkel des Gebäudes. Donny stand ganz still, während sie näher kamen. Alles wäre so leicht, dachte Lauren, wenn er einen Schritt auf sie zukommen und Jessica in den Arm nehmen würde. Wenn er sie ganz fest halten und ihr ins Ohr flüstern würde, dass er sie immer noch liebte und dass er nach Hause käme, dass diese letzten Monate ein dummer Fehler gewesen wären, eine Lebenskrise, die er durchmachen musste, um sich darüber klarzuwerden, wie viel ihm seine Familie bedeutete. Stattdessen trat er einen Schritt zur Seite und bat sie in seine Wohnung. Lauren folgte ihr und fühlte Donnys kurze Berührung am Arm. Jessica blieb unsicher im Flur
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