Die einzige Zeugin
wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und putzte sich die Nase. Dann musste sie das Schweigen brechen.
»Was meinte er damit? Dass ihr keinen Platz für ein Baby hattet? Was wollte er damit sagen?«
Jessica schüttelte den Kopf, als wollte sie nicht antworten. Sie ging jetzt wieder sehr schnell und lief vor Lauren her. Lauren streckte die Hand aus und griff nach ihrem Arm.
»Was hat er gemeint?«
»Als wir mit dir nach Cornwall gezogen sind, hattest du gerade alles verloren. Du brauchtest uns, deine Familie, und wir wollten für dich da sein. Wie hätten wir da ein zweites Kind haben können? Wir haben alles für dich getan. Wir wollten dir helfen, darüber hinwegzukommen. Wir mussten selbst darüber hinwegkommen. Ein weiteres Kind wäre wie ein Ablenkungsversuch gewesen. Das sind Donnys Worte. Nicht meine.«
»Ihr habt kein Kind bekommen, weil ich da war?«, fragte Lauren keuchend und versuchte, mit Jessica Schritt zu halten.
»Das darfst du nicht sagen.« Jessica nahm ihre Hand. » Du warst unser Kind.«
Jessica ging weiter, doch Lauren blieb stehen. Sekunden später war ihre Tante hinter der nächsten Ecke verschwunden. Wenn sie merkte, dass Lauren nicht mehr bei ihr war, würde sie sicher zurückkommen.
Doch es verging einige Zeit, ohne dass sie wieder auftauchte.
Lauren wartete trotzdem.
8
Bis zur Hazelwood Road hätte sie am besten den Bus genommen, doch Lauren beschloss, zu Fuß zu gehen. Sie beeilte sich nicht. Wenn Julie sie jetzt sehen könnte, würde sie denken, dass sie auf dem Weg zu Nathan war. Vielleicht war sie das ja auch. Vielleicht machte sie auch nur einen großen Umweg, um den Moment hinauszuzögern, in dem sie Jessica ins Gesicht sehen musste.
Sie kam aus einer anderen Richtung in die Hazelwood Road als die letzten Male. Sie bog am anderen Ende in die Straße ein. Es überraschte sie, dort auf einen kleinen Park zu stoßen. Dann, Momente später, wirkte er vertraut, und sie erinnerte sich daran. Auf einem Schild stand Somers Park . Es gab eine Schaukel und ein Karussell und ein Klettergerüst, das aussah wie ein Boot. Einen Augenblick zögerte sie, dann ging sie in den Park. Es gab keine Bank, also setzte sie sich im Schneidersitz aufs Gras. Sie zog ihre Jacke aus und legte sie sich über den Schoß. Es war halb sieben. Kinder turnten auf dem Boot herum, das neu aussah, als wäre es erst vor kurzem aufgestellt worden. Einige Jugendliche hielten die Ecke bei den Schaukeln besetzt und saßen auf den schmalen Brettern. Andere standen in Grüppchen herum und redeten und lachten. Weiter hinten auf der Wiese spielten ein paar Jungen Fußball. Kinder fuhren auf Fahrrädern durch den Park, obwohl es ein Schild gab, auf dem stand Fahrräder, Skateboards und Rollschuhe verboten! Während sie ihnen zusah, merkte sie, dass sich in ihrem Kopf ein Bild zusammensetzte, wie ein Ausschnitt aus einem Video. Ein kleines Mädchen neben einer Frau mit Kinderwagen. Das Mädchen hielt sich am Griff fest. Man hatte ihr gesagt, sie solle sich gut festhalten, nur für den Fall . Das war sie, Lauren Ashe, mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Daisy. Darf ich schaukeln? – Das ist zu gefährlich. – Das Boot ist so schön, darf ich klettern? – Da sind so ungezogene Kinder. – Ich spreche nicht mit ihnen, Mami! – Sie werden dich schubsen. – Ich laufe schon mal vor, Mami, zum Teich. – Komm sofort zurück, du fällst noch ins Wasser.
Gab es hier einen Teich? Lauren setzte sich aufrecht hin und schaute sich um. Der Park war rechteckig und langgezogen, sie konnte die andere Seite gerade so erkennen. Auf der rechten Seite war ein Teich gewesen, sie war sicher. Eine kleine Anlage mit Felsen und Wasser.
Nicht darauf herumklettern, sonst fällst du ins Wasser! Die Stimme ihrer Mutter ertönte weiter in ihrem Kopf. Und Daisy lag in ihrem Kinderwagen, und ihre kleinen Hände griffen nach den leuchtend bunten Figuren, die über ihr hingen. Sie waren aus unterschiedlichem Material, einige glatt, andere rau und andere mit weichem Stoff bezogen. Eine war ein Clown, sein Gesicht aus strahlendweißem Satin und sein Anzug leuchtend pink mit blauen Tupfen. Die Figuren bewegten sich, wenn man sie berührte, und manchmal klingelte ein kleines Glöckchen. Die meiste Zeit über lag Daisy nur da und blinzelte die bunten Farben an. Lauren liebte es, sie anzufassen, die verschiedenen Formen und Stoffe zu fühlen und sie zu drehen. Lass das, Lauren, du nimmst dem Baby das Licht. Pass auf, du trittst gegen den
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