Die einzige Zeugin
Wagen.
Ein Gefühl von Ärger stieg in ihr hoch. Sie hatte so wenige Erinnerungen an ihre Mutter und ihre Schwester, dass sie nicht ausgerechnet an die unangenehmen Momente denken wollte, in denen sie ermahnt worden war und sich unglücklich oder enttäuscht fühlte.
Ein Ball rollte ihr vor die Füße, und zwei kleine Jungen mit roten Wangen rannten hinterher. Sie stoppte ihn und warf den Jungs den Ball zu. Dann stand sie auf, klopfte sich das Gras von der Jeans und verließ den Park in Richtung Hazelwood Road.
An diesem Ende der Straße gab es nur Einfamilienhäuser und Gärten, und alles war etwas gepflegter und hübscher als am anderen Ende, wo ihr Haus stand. Die erste Hausnummer, die sie sah, war 239. Die Straße war lang. Sie erinnerte sich, dass sie oft hier entlanggegangen war, immer neben dem Kinderwagen, ihre Augen schauten auf den Boden und sahen den Füßen zu, die über die Pflastersteine liefen. So ging der Weg schneller vorbei. Etwa alle zehn Schritte schaute sie hoch und sah die Hausnummern vorbeiziehen, 249, 191, 172, 134. Pass auf, wo du hinläufst, Lauren. Du gehst zu schnell! Du wirst noch stolpern und den Kinderwagen umwerfen! Dann waren sie da, Nummer 49. Aber hatte ihre Mutter nicht einmal das Gegenteil gesagt? Als der Kinderwagen plötzlich schneller wurde und Lauren kaum noch hinterherkam? Als ob sie vor irgendjemandem auf der Flucht waren? Lauren erinnerte sich, dass sie keuchte, halb laufend, halb rennend, und ihre Mutter ihr zurief Schneller, beeil dich! Die Stoffpüppchen am Kinderwagen hüpften auf und ab, der Clown in der Mitte schien fröhlich zu tanzen. Dann waren sie zu Hause. Schnell! Schnell! Komm rein!
An dieser Stelle hörte die Erinnerung auf, als hätte sich in ihrem Kopf eine Tür geschlossen. Lauren stand wieder vor ihrem alten Haus. Was machte sie hier? Wollte sie sich jetzt mit diesem Typen treffen, diesem Nathan? Oder machte es sie einfach nur glücklich, in der Nähe ihres alten Hauses zu sein? Sie setzte einen Fuß vor, um weiterzugehen, doch dann sah sie Jessica vor sich, wie sie im Wohnzimmer hin- und herlief und ihre Hände in ihren Pullover krallte. Sie stellte sich das blaue Kleid vor, das achtlos auf dem Boden lag, und die Katze, die ratlos um Jessicas Beine strich, während das Miauen der Kätzchen aus dem Nebenzimmer zu hören war.
Donny bekam ein Baby. Der Gedanke daran schmerzte ihr in der Brust. Während der zehn Jahre, die sie bei ihnen gelebt hatte, hatte sie die beiden nie über eigene Kinder reden hören. Es war nie zur Sprache gekommen. War wirklich sie der Grund, dass sie nie ein Kind bekommen hatten? Ihr eigenes Kind, ihr eigenes Fleisch und Blut ? Jetzt war Donny gerade erst bei ihnen ausgezogen und schon kaufte er Teddybären. Lolly, du bleibst immer mein Mädchen , hatte er gesagt, aber es stimmte nicht. Er würde sein eigenes Kind haben, vielleicht auch ein Mädchen, und sie würde seine Nummer eins werden. Und Jessica? Wie sollte sie darüber hinwegkommen? Lauren fiel nichts ein, was sie ihr zum Trost hätte sagen können.
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Zwei junge Frauen kamen ihr auf dem Bürgersteig entgegen und sie machte ihnen Platz. Sie trugen kurze Kleider und eine der beiden redete ununterbrochen. Lauren hörte sie sagen Und das nennt sie Beförderung! Abstellgleis, würde ich eher sagen! Und die andere entgegnete Auf jeden Fall!
Die Absätze ihrer Schuhe klapperten auf dem Asphalt, und Lauren sah die jungen Frauen die Straße hinuntergehen. Würde sie jemals so aussehen? Würde sie jemals so sein ? Sexy Kleider, hohe Absätze, Angestellte in einer Bank oder in einem Bauunternehmen?
Sie schaute an sich herab auf ihr verkrumpeltes Shirt und ihre Jeans. Ihre Turnschuhe guckten hervor, die Schnürsenkel waren in einer Doppelschleife gebunden. Über dem einen Knie war ihre Jeans beinahe durchgescheuert, es konnte jeden Moment ein Loch daraus werden. Sie sollte sie wegwerfen, aber es war ihre Lieblingshose.
Sie hob den Blick und schaute zum Haus. Es schaute ausdruckslos zurück. War jemand da? Der Vorgarten sah etwas weniger chaotisch aus als beim letzten Mal. Die Mülltonne stand schief, aber das Holz und die alten Schränke waren weg. Dann fiel ihr auf, dass die Haustür ausgetauscht worden war. An Stelle der schäbigen grünen Tür befand sich nun eine Holztür mit Glasfenster und einem kupfernen Türklopfer. Sie musste erst vor kurzem eingebaut worden sein, denn am Boden lagen noch Holzspäne herum. Die
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