Die einzige Zeugin
nicht an den Tisch, sondern lehnte sich an die Arbeitsplatte und aß direkt aus dem Topf. Sie schaute zum Küchentisch hinüber, auf dem die Briefe verteilt waren, die ihr Vater ihr in den letzten zehn Jahren geschrieben hatte. Die rosafarbene Plastikmappe, in der sie aufbewahrt worden waren, lag leer auf einem der Stühle. Die Briefe lagen in kleinen Stapeln ordentlich nebeneinander. Sie aß ihre Nudeln, während ihr Blick von einem Stapel zum anderen Stapel wanderte.
Es waren viele Briefe aus den ersten Jahren, als ihr Vater gerade ins Gefängnis gekommen war, dann wurden es immer weniger. In diesem Jahr war nur ein Brief gekommen. Der Brief, der Donny vor einigen Wochen in die Schule nachgeschickt worden war. Bevor sie die Nudeln aufgesetzt hatte, hatte sie sie gezählt. Dreiundsechzig Briefe aus zehn Jahren.
Der Brief der Anwälte lag neben ihr auf der Arbeitsplatte. Sie aß die Nudeln auf und spülte den Topf. Dann nahm sie den Brief und las ihn noch einmal.
Sehr geehrte Miss Ashe,
wir sind zum rechtlichen Vertreter Ihres Vaters Robert Slater ernannt worden. Der Termin seiner erneuten Berufung ist für Anfang September angesetzt. Er ist darüber informiert, dass Sie derzeit in London wohnhaft sind, und zeigt sich besorgt über die Auswirkungen, die die mediale Berichterstattung über den Fall auf Sie haben könnte. Wir setzen uns in seinem Auftrag mit Ihnen in Verbindung, um Sie über die einzelnen Umstände der Berufung ins Bild zu setzen.
Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, hat Ihr Vater das Anrecht auf eine erneute Anhörung hinsichtlich einer eventuellen Bewährungsstrafe. Es besteht also die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung. Diese Möglichkeit kann nur in Kraft treten, wenn Ihr Vater den Tatbestand seiner Schuld einräumt. Diesen Weg schließt Ihr Vater jedoch grundsätzlich aus. Er besteht nach wie vor auf seiner Unschuld. In diesem Fall wird er die Haftstrafe bis zum Ende absolvieren müssen, es sei denn, dass ein Berufungsgericht das frühere Urteil aufhebt.
Unabhängig von der Bedeutung dieser Berufung, ist es Ihrem Vater wichtig, dass Sie von dem Verfahren nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Aus diesem Grund möchte er, dass Sie über das Verfahren im September bereits vorab informiert sind.
Um Sie umfassend vorbereiten zu können, würden wir Sie gerne zu einem persönlichen Treffen einladen. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich so schnell wie möglich telefonisch mit uns in Verbindung setzen, damit wir einen Termin vereinbaren können.
Mit freundlichen Grüßen,
Rachel Morris
Sie legte den Brief aus der Hand. Im September wäre sie längst wieder in Cornwall.
Sie machte den Abwasch und setzte sich an den Küchentisch. Sie seufzte und tippte die Briefe leicht mit den Fingern an. Dann nahm sie einen nach dem anderen aus dem Umschlag.
Die ersten Briefe waren kurz, nicht länger als eine Seite. Sie waren in großer Druckschrift geschrieben, leicht für ein sieben-, acht- oder neunjähriges Kind zu lesen. Mit der Zeit wurden die Briefe seltener, die Schrift kleiner und der Inhalt länger. Ihr Vater hatte sich vorgestellt, wie sie älter wurde, bis sie zwei volle eng beschriebene DIN-A4-Seiten lesen konnte, wobei die Handschrift immer nachlässiger wurde. Die vier Briefe aus den letzten Jahren waren auf dem Computer geschrieben.
Sie las jeden einzelnen. Sie achtete nicht auf die Zeit und kümmerte sich nicht um die Sachen, die sie zu tun hatte, sie las einfach jeden einzelnen Brief von vorne bis hinten und dann den nächsten. Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück. Draußen war es dunkel und sie stellte fest, dass es kurz vor zehn war. Sie streckte ihre Arme und die Gelenke knackten. Dann nahm sie noch einmal den allerersten Brief und überflog ihn. Er war kurz, nur zwölf Zeilen.
Ich hoffe, es geht dir gut … Ich vermisse dich sehr … Ein schrecklicher Fehler … Deine arme Mutter und deine arme kleine Schwester … Ich habe dich sehr lieb … Ich gebe dir nicht die Schuld …
Sie warf ihn auf den Tisch, ohne ihn fertig zu lesen.
Ihr Blick fiel auf einen anderen Brief. Ihr Vater hatte ihn zum ersten Weihnachtsfest geschrieben, das er im Gefängnis verbracht hatte. In die Ecken hatte er kleine Weihnachtsbäume gezeichnet.
Liebe Lauren,
ich hoffe, dass der Weihnachtsmann dir viele tolle Sachen bringt und dass du ein wunderschönes Fest am Meer bei deiner Tante Jessica und deinem Onkel Donny hast.
Es geht mir gut, und ich freue mich so darauf, dich
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