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Die einzige Zeugin

Die einzige Zeugin

Titel: Die einzige Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Cassidy
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ausstrecken würde, könnte sie Daisy gerade so berühren.
    Wo war ihre Mutter? Waren Lauren und Daisy ganz alleine in dem großen Bett?
    Die Schritte erreichten den ersten Stock. Sie waren lauter als vorher, aber sie wurden langsamer. Ein Schritt. Noch einer. Und noch einer.
    Die Schlafzimmertür ging auf.
    ***
    Lauren setzte sich auf. Sie war wieder in der Gegenwart, in Bethnal Green, ein Mädchen, das für die Abschlussprüfungen lernen sollte, kein kleines Kind, das im Bett seiner Mutter lag. In ihrer Brust spürte sie ein nagendes Gefühl, Angst, Panik, sie war nicht sicher. Ihr Nacken war steif, ihr Mund trocken. Sie schlug die Decke zurück und zog sich an. Sie ging schwerfällig nach unten in die Küche. Die Briefe ihres Vaters lagen immer noch auf dem Tisch. Sie hatte sie alle zurück in ihre Umschläge gesteckt. Nur der Brief aus der Anwaltskanzlei lag noch offen da. Sie nahm ihn in die Hand und fühlte plötzlich Ärger in sich aufsteigen. Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in den Umschlag. Nach kurzem Zögern ging sie zum Mülleimer und warf ihn hinein.
    Welches Recht hatte diese Anwältin, sie in ihre Kanzlei zu bestellen, damit sie sich die Einzelheiten über die Berufung ihres Vaters anhörte? Eigentlich müsste es andersherum sein. Sie sollte ihr zuhören, was sie gesehen hatte, was sie durchgemacht hatte. Dann würde sie sich vielleicht nicht mehr so einfach auf seine Seite stellen.
    Nachdem sie die restlichen Briefe zurück in die Plastikmappe gesteckt hatte, starrte sie die Mülltonne an. Warum ging sie nicht zu dieser Anwältin und sagte ihr, was Sache war? Bei diesem Gedanken fühlte sie sich sofort besser. Sie würde sich mit ihr treffen. Sie würde ihr sagen, dass sie keinen Kontakt zu Robert Slater haben wollte. Sie holte den Brief aus dem Mülleimer und strich ihn auf dem Tisch glatt.
    Um zwanzig vor neun wählte sie die Nummer der Kanzlei. Sie presste ihr Handy ans Ohr, während das Freizeichen ertönte. Sie würde zu der Anwältin ins Büro gehen und mit ihr reden. Sie selbst war der beste Beweis. Sie hatte überlebt und sie war Zeugin der schrecklichen Dinge, die ihr Vater vor zehn Jahren getan hatte.
    »Sie sprechen mit Rachel Morris«, sagte eine Stimme.
    »Guten Tag«, sagte Lauren und ihre Entschlossenheit schwand.
    »Kann ich Ihnen helfen? Hier ist Rachel Morris.«
    »Ich rufe an, weil … ich habe einen Brief von Ihnen bekommen.«
    »Darf ich Sie um Ihren Namen bitten?«
    »Lauren Ashe.«
    »Miss Ashe! Vielen Dank, dass Sie anrufen. Es ist gut, von Ihnen zu hören.«
    »Ich würde gerne vorbeikommen und mit Ihnen reden. Heute.«
    »Heute … äh … ja, natürlich. Ich hätte heute Nachmittag Zeit. Geht es bei Ihnen gegen halb drei?«
    Sie würde einen Kurs verpassen, aber sie wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
    »Haben Sie die Adresse? Wir sind gleich um die Ecke von der U-Bahnstation Holborn.«
    »Ich weiß, wie ich hinkomme«, sagte Lauren.
    »Dann sehen wir uns später. Ich freue mich!«
    Lauren legte schnell auf. Die leichte, fröhliche Stimme der Frau nervte sie. Sie klang, als hätte sie einen Friseurtermin gemacht. Vielleicht würde sie die Tonlage ändern, wenn sie hörte, was Lauren ihr zu sagen hatte. Dann würde sie vielleicht nicht mehr so aufgekratzt klingen.

13
    Holborn war ein noch belebteres Viertel als Bethnal Green. Sie kam aus der U-Bahnstation und wurde sofort von dem Menschenstrom mitgerissen. Sie stellte sich ganz an den Rand des Bürgersteigs und schaute auf den Stadtplan. Die Straße, in die sie musste, lag auf der anderen Seite. Sie bahnte sich einen Weg durch das Gewimmel und wartete an der Ampel. Als es grün wurde, war der Überweg noch immer von Autos versperrt und sie musste sich zwischen den Wagen hindurchschlängeln.
    Dann stand sie vor der Anwaltskanzlei, drückte auf die Klingel und sagte ihren Namen in die Gegensprechanlage. Als sie die Kanzlei betrat, bat sie die Empfangsdame, Platz zu nehmen. Eine Sekunde später kam eine Frau herein.
    »Miss Ashe«, sagte sie und streckte ihr die Hand entgegen.
    Lauren stand auf. Die Frau kam direkt auf sie zu, und sie hatte keine andere Wahl, als ihr die Hand zu geben.
    »Ich bin Rachel Morris, ich geb’s zu«, sagte sie scherzhaft. Lauren folgte ihr ins Büro. Sie war klein und kräftig und trug einen schwarzen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Am Kragen ihres Blazers hatte sie eine rosafarbene Häkelbrosche in Form einer Blüte. Rachel Morris fing ihren Blick auf und zupfte an

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