Die einzige Zeugin
neues Leben anfangen. Und jetzt reise ich ab.«
»Ein neues Leben? Habt ihr einen neuen Anfang gebraucht, du und Donny?«
Jessica nickte und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Sie knäulte das T-Shirt zusammen und drückte es sich vors Gesicht. Lauren konnte nur den Teil mit der Aufschrift Florida sehen.
»Ehrlich gesagt, lief es schon in St. Agnes nicht mehr so gut. Wir dachten, wenn Donny sich einen neuen Job sucht, wird alles besser. Aber es sollte wohl nicht sein.«
Lauren schob ihren Arm unter Jessicas. Sie wartete auf die Schluchzer und bitteren Worte, doch sie blieben aus. Jessica schien ruhiger zu sein als all die Monate zuvor.
»Ich glaube, das nehme ich mit nach St. Agnes«, sagte sie und zeigte auf das T-Shirt.
Um neun Uhr war alles im Transporter verstaut. Die Katzen kamen als Letztes.
»Es ist eine lange Fahrt«, sagte Lauren und fühlte sich plötzlich komisch, wie sie da auf dem Bürgersteig stand, während Jessica den Katzenkorb neben die letzten Tüten stellte.
»Wenn ich die Hälfte geschafft habe, mache ich eine Pause. Es wird nicht allzu viel Verkehr sein. Zum Glück ist heute nicht Samstag.«
Lauren nickte. Jessica kam zu ihr und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Bist du sicher, dass du das schaffst? Du weißt ja, wenn irgendetwas ist, kannst du Donny anrufen. Wenn eine Sicherung durchbrennt oder du einen Klempner brauchst.«
»Ich kann selbst eine Sicherung wechseln«, sagte Lauren. »Ich komme schon allein zurecht.«
»Ich weiß. Und ich werde in der Zwischenzeit das Haus für uns und die Katzen herrichten und mich nach einem Sommerjob umsehen. Du wirst sehen, wir werden uns ganz schnell wieder zu Hause fühlen. Es wird sein, als wären wir nie fort gewesen.«
Jessica umarmte sie fest. Nach einem Moment ließ sie sie wieder los. Als sie einen Schritt zurücktrat, sah Lauren, dass Jessicas Gesicht sich rötete und sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen.
»Drei Wochen«, sagte sie. »Es sind nur drei Wochen.«
Jessica nickte und stieg ins Auto. Einen Augenblick später sprang der Motor an, und der Wagen rollte davon. Lauren sah ihm nach, bis er hinter der Ecke verschwunden war. Sie winkte eifrig und machte den Arm ganz lang. Selbst, als das Auto um die Ecke gebogen war, winkte sie noch einen Moment weiter. Sie musste ziemlich albern aussehen, aber das war ihr egal.
Teil 2
Haus der Erinnerungen
11
Es war so angenehm, alleine zu wohnen, dass Lauren beinahe ein schlechtes Gewissen hatte. Sie musste sich nicht mehr ständig um Jessica und ihren Gefühlshaushalt kümmern. Nach Wochen, in denen sie auf Zehenspitzen durchs Haus geschlichen war, konnte sie sich endlich entspannen. Donny und Jessica, Jessica und Donny. Jetzt waren beide weg, und obwohl Lauren sie vermisste, fühlte sie, dass das Gewicht ihrer Trennung von ihren Schultern abfiel.
Sie musste nicht aufräumen. Sie konnte ihre Sachen herumliegen lassen, ohne dass sich jemand beschwerte. Wenn sie nach dem Essen keine Lust hatte abzuwaschen, konnte sie das Geschirr einfach in der Spüle stehen lassen. Sie musste ihr Bett nicht machen, bevor sie sich morgens in letzter Minute auf den Schulweg machte. Die Handtücher ließ sie im Bad über dem Wannenrand hängen und ihre Klamotten lagen überall verstreut. Die Klopapierrolle stand auf der Fensterbank und steckte nicht am Halter.
Die erste Woche verbrachte sie hauptsächlich mit Schlafen, Schule und Lernen. Das Haus verwandelte sich langsam in einen Hindernisparcours. Im Wohnzimmer waren Kissen auf dem Boden verteilt, dazwischen ihre Bücher, Notizen und leere Gläser. In der Küche war das Geschirr zwar größtenteils gespült, aber nicht in die Schränke eingeräumt, sondern stand neben Cornflakesschachteln, Marmeladengläsern und Konservendosen auf der Arbeitsfläche. Es machte doch keinen Sinn, alles einzuräumen, wenn man es wenige Stunden später sowieso wieder herausholte.
Sie hatte alle Hände voll zu tun. Sie musste die Vorbereitung für ihr Kunstprojekt abschließen und verbrachte Stunden damit, die endgültigen Modelle auszuwählen. Die Theateraufführung hatte sie hinter sich gebracht, aber für Geschichte musste sie noch einiges machen.
Jeden Abend telefonierte sie mit Jessica, und wenn sie zwischendurch einen Augenblick Zeit hatte, schrieb sie ihr eine kurze Mail. Sie war froh, dass sie so viel zu tun hatte. So vergingen die Tage im Flug.
Gelegentlich dachte sie an Nathan. Sie sah ihn vor sich, wie sie ihn letzte Woche stehen gelassen hatte. Sie
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