Die einzige Zeugin
den Blättern.
»Die hat meine Mutter für mich gemacht. Ich habe ihr zufällig erzählt, dass ich so etwas irgendwo gesehen habe, und sie hat mir eine gehäkelt. Meine Freundinnen waren alle ganz begeistert, und jetzt hat sie für sie auch welche gemacht. Seit ein paar Monaten kommt sie aus dem Häkeln nicht mehr heraus!«
Lauren nickte und wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Ach, ich schwatze schon wieder zu viel. Bitte setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Kaffee oder Tee? Oder vielleicht ein Glas Wasser?«, fragte sie.
Lauren schüttelte den Kopf.
Das Telefon klingelte leise, als wollte es nicht stören.
»Bitte entschuldigen Sie mich ganz kurz«, sagte Rachel Morris.
Lauren schaute sich im Büro um, während die Anwältin etwas in den Hörer murmelte. Ihr Blick wanderte durch den Raum und blieb am Fenster hängen, an dem mehrere Postkarten befestigt waren. Die ganze Zeit über versuchte sie, sich zu konzentrieren, daran zu denken, warum sie hergekommen war. Sie war nicht hier, um ein nettes Schwätzchen zu halten. Sie war hier, um dieser Frau unmissverständlich klarzumachen, dass sie nichts mit ihrem Vater zu tun haben wollte. Sie wollte weder Briefe von ihm bekommen, noch über den Verlauf der Gerichtsverhandlung informiert werden. Es war ihr egal, was mit ihm passierte, und wenn seine Anwältin wissen wollte, warum, würde sie ihr erzählen, was sie gesehen hatte, an dem Tag, an dem ihre Mutter und ihre Schwester ermordet worden waren.
Rachel Morris versuchte, Blickkontakt mit ihr aufzunehmen. Lauren sah sie an. Sie legte die Hand über den Hörer und formte mit dem Mund das Wort Entschuldigung .
Eigentlich hatte sie gar nicht kommen wollen. Mittags hatte sie einen Anruf von Jessica bekommen. Was treibst du? hatte Jessica gefragt, und sie hatte gesagt, Ach, nichts Besonderes. Schule und so. Sie hatte gelogen. Sie hatte nichts von diesem Besuch gesagt, weil sie wusste, dass sich ihre Tante schrecklich aufregen würde. Als sie schon auf dem Weg war, hatte sie festgestellt, dass sie den Brief mit der Adresse vergessen hatte, und musste noch einmal umkehren.
»Bitte entschuldigen Sie! Es tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagte Rachel Morris.
Lauren schaute auf. Sie war in Gedanken gewesen und hatte nicht mitbekommen, dass das Telefongespräch beendet war. Der Hörer steckte wieder in der Station und Rachel Morris saß aufrecht an ihrem Schreibtisch und sah sie erwartungsvoll an. Lauren räusperte sich.
»Ich möchte Sie bitten, meinem Vater mitzuteilen …«
Rachel Morris nahm ein Blatt Papier und einen Stift und wartete, dass Lauren ihren Satz beendete.
»Ich möchte keine Briefe mehr von meinem Vater bekommen. Bitte sagen Sie ihm das.«
Rachel Morris verzog keine Miene. Sie machte eine Kopfbewegung wie ein kleines zustimmendes Nicken. Sie wartete. Lauren sah sich gezwungen, weiterzusprechen.
»Ich will nicht, dass er mir schreibt. Es interessiert mich nicht, was er tut, und ich möchte, dass er mich in Ruhe lässt.«
Rachel Morris schrieb etwas auf und sah Lauren wieder an. Ihr Gesicht war sehr verständnisvoll. Sie sagte noch immer nichts.
»Ich habe mein eigenes Leben. Ich gehe zur Schule. Ich habe Freunde. Meine Familie.«
»Ihre Tante und Ihren Onkel?«, fragte Rachel Morris sanft.
Sie nickte. Warum sollte sie ihr sagen, dass Donny ausgezogen war? Es ging sie nichts an. Jedenfalls schrieb sie wieder etwas auf das Papier. Lauren betrachtete ihren Kopf. Auf beiden Seiten des Scheitels verlief eine schmale graue Linie. Das übrige Haar war braun.
»Das ist alles, was ich Ihnen sagen möchte«, sagte sie und schob ihren Stuhl zurück.
Rachel Morris hörte auf zu schreiben und schaute sie an. Es schien, als hätte sie mindestens zwei Absätze geschrieben, während Lauren nur einen Satz gesagt hatte.
»Was ist das?«
»Das sind meine Notizen, damit ich Ihrem Vater Bericht erstatten kann.«
»Aber warum so viel?«
»Anwälte! Wir können uns einfach nicht kurz fassen. Das ist unser Job. Möchten Sie sehen, was ich geschrieben habe?«
Lauren schüttelte den Kopf.
»Gibt es noch etwas, dass Sie mir mitteilen möchten?«
Sie wehrte ab.
»Darf ich Ihnen, bevor Sie gehen, nur ganz kurz etwas zu Mr. Slaters Berufung sagen? Für den Fall, dass etwas in der Zeitung steht, das Sie betreffen könnte?«
»Ich möchte nichts davon wissen.«
»Das verstehe ich. Aber Sie könnten etwas lesen, die –«
»Ich werde es nicht lesen. Ich werde es ignorieren.«
»Können Sie sich
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