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Die einzige Zeugin

Die einzige Zeugin

Titel: Die einzige Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Cassidy
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einzuschätzen. Es gab ein Vorher und ein Nachher. Alles, was Vorher war, schien zur gleichen Zeit passiert zu sein, alles stand auf derselben Seite. Nachher zog sich dahin wie die Kapitel eines Buches.
    Der Clown machte Witze und führte Zaubertricks vor. Er zog bunte Tücher aus seinem Ärmel. Viele Tücher, die zusammengebunden waren und die Farben eines Regenbogens hatten. Dann knüllte er alle Tücher zusammen, steckte sie sich in den Mund und kaute eine lange Zeit. Dann machte er einen großen Schluck und öffnete den Mund. Die Tücher waren weg. Er hatte sie aufgegessen.
    Er war groß. Sein Gesicht war lang und schmal und seine Ohren standen etwas ab. Er war dick geschminkt und seine Mundwinkel zeigten nach unten, so dass er traurig aussah. Er trug eine rote Hose mit gelben Punkten und einen lila Frack. Er brauchte mehrmals Freiwillige für seine Tricks, und die Zwillinge kamen ganz zufällig fast jedes Mal dran. Einmal zeigte er auf Lauren und sie bekam Angst, aber er machte nur einen Witz. Seine Haare waren rot und gekräuselt. Er schien fröhlich und lustig, aber Lauren hatte an seinem Lachen und seinen Kunststücken keine Freude. Sie fand ihn irgendwie unheimlich und stellte sich vor, wie die regenbogenfarbenen Tücher nun in seinem Magen lagen.
    Ihre Mutter war mit Daisy herübergekommen, als er noch seine Kunststücke zeigte, und sie hatte ihm eine Weile zugesehen.
    Als die Party vorbei war, hockte Lauren auf einem Sessel im Wohnzimmer und wartete auf ihre Mutter, die sich noch mit Molly unterhielt. Sie hörte Molly ein fröhliches Auf Wiedersehen, und vielen Dank noch mal! zwitschern, und die Haustür schloss sich. Ein glatzköpfiger Mann in gewöhnlicher Kleidung kam aus dem Haus. Er trug eine große Tasche, und als er das Gartentor öffnete, drehte er sich kurz um und sie sah, dass es der Clown war. Die Schminke und die Perücke waren weg, aber die abstehenden Ohren und das lange Gesicht hatte er immer noch. Außerdem zeigten seine Mundwinkel noch immer nach unten.
    War das der Mann, von dem Rachel Morris gesprochen hatte?
    Lauren öffnete die Augen und stellte fest, dass es noch heller geworden war. Die Sonne schien durch einen Spalt zwischen den Vorhängen. Sie hob den Kopf und sah sich im Zimmer um. Gläser und Bierdosen lagen auf dem Boden herum. Sie setzte sich auf und legte eine Hand auf den Bauch, als könnte sie so die Übelkeit mildern. Langsam kam sie auf die Füße und ging aus dem Zimmer. Sie rief Julie nach oben und lauschte. Sie rief noch einmal lauter, aber es kam keine Antwort.
    Sie war alleine. Julie und Ryan waren nicht mehr da. Ein Fünkchen Selbstmitleid glomm in ihr auf. Jessica und Donny waren weg. Sie hatte niemanden mehr. Sie war schrecklich verkatert und hätte auf der Stelle losheulen können. Sie zwang sich, die Treppe hoch in ihr Zimmer zu gehen. Sie ging geradewegs hinein und schloss die Tür hinter sich. Die Decke auf ihrem Bett war weg. Ihr fiel ein, dass sie noch unten im Wohnzimmer lag. Sie legte sich aufs Bett und streckte sich aus.
    Sie dachte wieder an den Clown. Als er das Haus verlassen hatte, hatte er ausgesehen wie ein ganz normaler Mann, den man auf der Straße trifft. Er hatte den Clown in der großen Tragetasche verstaut. Als Kind hatte sie sich das so vorgestellt, dass er eine lebensgroße Puppe einmal in der Mitte gefaltet und dann eingepackt hatte. In ihrer Vorstellung funkelten die Augen in der dunklen Tasche und die kirschroten Lippen schnappten nach Luft.
    Rachel Morris würde sich für diesen Mann sicher interessieren.

15
    Um kurz nach zehn wurde Lauren durch das Klingeln ihres Handys geweckt. Es kam von unten aus dem Wohnzimmer. Sie lief schnell hinunter, aber sie kam zu spät. Julie stand auf dem Display. Einen Augenblick später kam eine SMS. Hoffe, du hast keinen Mega-Kater! Wir sehen uns in der Schule. Dann erzähle ich dir alles über Ryan!!!
    Sie ging in die Küche und füllte ein großes Glas mit Wasser. Sie trank es in einem Zug aus, dann ging sie zurück in ihr Zimmer. Ihr Blick fiel auf die rosa Plastikmappe. Sie lag auf ihrer Kommode, wo Lauren sie gestern achtlos abgelegt hatte. Sie verspürte das Bedürfnis, sie ordentlich hinzulegen. Sie streckte die Hand aus, aber als ihre Finger das kalte Plastik berührten, nahm sie die Mappe und ging damit zum Bett. Einen Moment lang war sie unentschlossen, dann holte sie die Briefe heraus. Sie nahm ein Haargummi vom Nachttisch und band sich die Haare zurück. Dann blätterte sie durch die Briefe,

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