Die einzige Zeugin
bis sie diejenigen gefunden hatte, die sie suchte.
Zwei Briefe waren mit Computer geschrieben worden. Der längere von beiden war zwei Jahre alt. Sie hielt die Briefe in der Hand und spürte ein undeutliches Gefühl. Eine Mischung aus Skepsis und Schmerz. Ihr Vater, Robert Slater, war vor zehn Jahren einfach aus ihrem Leben verschwunden. Und doch hatte sie einige Bilder von ihm im Gedächtnis bewahrt, Erinnerungen an Vorher , als sie noch sehr klein war.
Er war mit ihr in dem kleinen Park am Ende der Hazelwood Road. Er stand neben der Schaukel. Sie selbst musste auf der Schaukel gesessen haben, denn sie erinnerte sich daran, dass sie sich auf ihn zu und von ihm weg bewegte. Sie streckte die Arme nach ihm aus, und als sie ihn fast berührte, schwang die Schaukel zurück und trug sie wieder von ihm fort. Er stand leicht von ihr abgewandt und hatte sein Handy am Ohr, die andere Hand ausgestreckt, um sie anzuschubsen, wenn sie wieder in seine Richtung kam. Dann stand er vor ihr und sie stieg von der Schaukel. Er setzte sie auf seine Schultern und sie sah einen kleinen Bleistift hinter seinem Ohr. Der lag da einfach. Papa, ich habe einen Bleistift gefunden , sagte sie. Im nächsten Moment hockte sie auf einer niedrigen Mauer und hielt den Stift in der Hand. Der Mann im Lotto-Laden hat ihn mir geschenkt , sagte er.
Ihr Vater war im Schuppen in ihrem Garten. Er stand an der Werkbank und hatte eine Zigarette im Mund. Kann ich dir helfen, Papi? Kurz darauf saß sie im Gras und hatte ein paar braune Tontöpfe vor sich. Neben ihr war ein Sack Blumenerde. Ihre Aufgabe war es, die Erde in die Töpfe zu füllen. Dann kam er aus dem Schuppen und hockte sich mit einem Tütchen Blumensamen neben sie. Sie nahm die winzigen harten Körner und steckte sie in die feuchte Erde. Jetzt stellen wir sie für ein Paar Wochen in den Schuppen, und wenn sie groß sind, pflanzen wir sie in den Garten.
Sie waren in der Küche. Lauren saß am Tisch. Daisy war nicht da, vielleicht war es vor ihrer Geburt. Vor ihr stand ein Teller mit Hühnchen und Reis und Soße. In dem Reis waren Erbsen. Papi, ich mag keine Erbsen! Wie hatte er das vergessen können. Er rollte die Augen. Sein Gesicht war ganz rot von der Hitze beim Kochen. Er setzte sich neben sie und pickte mit einer Gabel alle Erbsen aus dem Reis. Die Tür ging auf und ihre Mutter kam herein. Sieh dir das an! Wie konnte ich Lolly nur Erbsen vorsetzen!
Lolly. Ihr Vater hatte sie bei ihrem Spitznamen genannt. Bis zu diesem Moment hatte sie sich nicht daran erinnert. Sie rutschte auf ihrem Bett an die Wand und zerdrückte dabei die anderen Briefe. In ihrer Hand hielt sie den getippten Brief, den er ihr geschickt hatte, als sie fünfzehn war.
Liebe Lauren,
ich habe dir schon länger nicht mehr geschrieben, weil es mir in letzter Zeit nicht so gut ging. Mein Asthma ist schlimmer geworden und es hat eine Weile gedauert, das richtige Medikament zu finden. Aber es gibt auch etwas Gutes: ich kann dir diesen Brief am Computer schreiben. Ich habe nämlich gerade einen Computer-Kurs besucht. Während du dich auf deine Prüfungen vorbereitest, tippe ich hier mit zwei Fingern und bin stolz, dass ich mit den neuen Programmen umgehen kann. Das findest du sicher zum Lachen. Deine Generation weiß alles über Computer. Aber wir Alten haben unsere Probleme.
Du fehlst mir. Ich denke jeden Tag an dich und frage mich, wie du jetzt wohl aussiehst und welche Kleider du dir kaufst und welche Musik du hörst. Ich stelle mir vor, dass du groß bist und bestimmt schlank, wie deine Mutter. Ich stelle mir vor, dass du lange braune Haare hast und hübsch bist, wie deine Mutter.
Ich sollte wahrscheinlich besser nicht über deine Mutter reden, aber irgendwie gehe ich davon aus, dass du diesen Brief sowieso nicht liest, also kann ich genauso gut weiterschreiben. Als deine Mutter und ich geheiratet haben, waren wir für einige Jahre sehr glücklich. Du darfst nicht glauben, was in der Zeitung stand, dass ich jede Woche eine andere Affäre hatte. Das ist nicht wahr. Deine Mutter und ich waren ein echtes Ehepaar. Für ein paar Jahre. Aber deine Mutter war ein Mensch, der immer nur die dunkle Seite sah. Sie machte sich um alles und jedes Sorgen. Als du klein warst, versuchte sie, dich vor allem zu beschützen. Das machte sie fertig. Sie veränderte sich, sie wurde zu einer Person, die überall nur Gefahren sah. Wir haben uns auseinandergelebt, und es stimmt, dass ich mich eine Weile von ihr getrennt habe. Aber ich bin
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