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Die einzige Zeugin

Die einzige Zeugin

Titel: Die einzige Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Cassidy
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zurückgekommen und wir wollten es noch einmal versuchen. Dann habe ich Georgia getroffen. Ich habe einen Wintergarten für sie gebaut, und wir haben uns ineinander verliebt. Ich habe versucht, mit deiner Mutter zu reden, aber sie wollte nichts davon hören. Sie wollte weitermachen wie bisher.
    Ich habe deine Mutter und Daisy nicht umgebracht, aber ich weiß, dass es viele Indizien gibt, die mich schuldig erscheinen lassen. Und dann gibt es natürlich die Aussage, die du im Prozess gemacht hast. Sie hat alle Verdachtsmomente bestätigt. Ich mache dir deswegen keinen Vorwurf. Du hast die Wahrheit gesagt, du hast beschrieben, was du gesehen hast. Vielleicht wirst du eines Tages verstehen, dass du nur einen Teil des Bildes gesehen hast. Ich weiß es nicht. Egal, was passiert, auch wenn die Wahrheit niemals ans Licht kommt, werde ich dir keine Schuld geben. Ich werde dich immer liebhaben.
    Papa XXX
    Lauren nahm den zweiten Brief. Er war etwa ein Jahr alt. Damals war sie sechzehn. Sie las ihn nicht ganz, nur den letzten Absatz.
    Meine Anwältin hat mir gesagt, dass es neue Beweise gibt und dass es ganz danach aussieht, als könnten wir eine neue Berufung einlegen. Ich schreibe dir jetzt nicht die Einzelheiten, aber ich drücke ganz fest die Daumen. Vielleicht ist der Tag gar nicht so fern, an dem sie einsehen werden, dass ich zu Unrecht verurteilt wurde. Und an diesem Tag können wir uns endlich wiedersehen.
    Alles alles Liebe,
    Papa XXX
    Sie legte den Brief aufs Bett. Langsam und jede überflüssige Bewegung vermeidend, zog sie die Beine hoch, legte sich auf die Seite und den Kopf aufs Kissen. Sie war verwirrt. Alle ihre Überzeugungen schienen plötzlich ins Wanken zu kommen. Wenn sie nur mit jemandem reden könnte. Vielleicht mit Jessica. Aber Jessica hatte nie gerne über die Vergangenheit gesprochen. Und Lauren hatte ihr kaum Fragen gestellt. In den ersten beiden Jahren war sie regelmäßig bei einer Psychologin gewesen, Mrs. Paxton im St. Michaels Krankenhaus. Einmal im Monat war sie zu ihr in ein blau gestrichenes Zimmer gegangen, vor dessen Fenster ein großer Baum stand. Mrs. Paxton redete mit sanfter Stimme. Sie trug Strickjacken, selbst wenn es heiß war, und sie nickte viel, als wäre sie mit allem einverstanden, was Lauren von sich gab. Sie hatte immer ein Namensschild an der Jacke, auf dem Jenny stand, aber Lauren hatte sie nie so genannt. Wenn sie einen Moment lang nicht sprachen, schaute sie aus dem Fenster in den Baum. An manchen Tagen schien er voller Vögel zu sein, an anderen Tagen waren die Zweige leer. Als hätten die Vögel gehört, dass ein anderer Baum gerade angesagter war. Manchmal sah sie auch ein Eichhörnchen, das wie verrückt den Baumstamm hochrannte. Und einmal kamen Männer mit einer Motorsäge und stutzten die Zweige. Mrs. Paxton drehte sich immer wieder irritiert um und ärgerte sich über den Lärm.
    Jessica fragte sie nie, wie es bei diesen Sitzungen gelaufen war. Wenn Lauren etwas erwähnte, sagte sie nur Das ist gut oder Da hast du recht . Als sie sieben oder acht Jahre alt war, waren Donny und Jessica einfach nicht bereit gewesen, über das zu reden, was mit Laurens Mutter und Schwester passiert war. Das Gespräch kam nur zufällig darauf. Der Mord an ihrer Mutter und ihrer Schwester. Ihr Vater im Gefängnis. Diese Themen waren wie herumliegende Felsbrocken, und die meiste Zeit über versuchten Lauren, Jessica und Donny, ihnen aus dem Weg zu gehen. Ab und zu konnten sie das Thema nicht umgehen.
    Warum hat Papi nicht bei Mami und Daisy und mir gewohnt?
    Wo hat Papi gewohnt?
    Warum war Papi so böse zu Mami?
    Mrs. Paxton gab ihr vage und ausweichende Antworten auf diese Fragen. Jessica versuchte gar nicht erst, ihre Fragen zu beantworten. Sie wurde rot im Gesicht und presste die Lippen zusammen, als könnten die Worte sie verbrennen. Donny schaute sie dann immer hilflos an. Es ist schwer zu sagen, warum Menschen etwas tun, Lolly. Manchmal gibt es keine Antworten. Also fragte Lauren nicht mehr nach. Eines Tages sagte sie, dass sie nicht mehr zu Mrs. Paxton gehen wollte. Jessica schien erleichtert zu sein und nahm sie stattdessen mit ins Kino.
    Lauren stand auf und schaute aus dem Fenster in den Garten. Es war kurz vor elf, aber draußen war alles ruhig. Der Sonntag breitete sich lang und leer vor ihr aus. Sie hatte jede Menge zu tun, aber plötzlich kam ihr alles unwichtig vor. Die Prüfungen, die Noten, die Projekte, die Gutachten für die Uni. Das war alles nichts gegen dieses

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