Die einzige Zeugin
wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle, außer vielleicht … ihr seht euch ein bisschen ähnlich. Sie hatte lange Haare. So wie du.«
»Wie ich.«
»Aber … du sollst nicht denken, dass du …«
»Dass ich ein Ersatz bin?« Lauren war nicht sicher, wohin dieses Gespräch führte.
»Vielleicht war es wirklich das, was mir zuerst an dir aufgefallen ist. Die Haare, meine ich. Aber du bist ganz anders als Mandy. Sie stand ständig vor dem Spiegel und schminkte sich und ging shoppen …«
»Und ich laufe rum wie ein Penner«, sagte sie.
»Nein! Aber du kümmerst dich nicht um so was, und das mag ich an dir. Du bist ganz anders als Mandy.«
»Ich habe eine tragische Vergangenheit. Das macht mich einzigartig«, sagte sie trocken.
Sie war angespannt und rechnete damit, dass er sie jetzt ausfragen würde. Wie fühlt es sich an, wenn jemand dich umbringen will? Aber er sagte nichts. Er sah verlegen aus. Es tat ihm leid, dass das Gespräch diese Wendung genommen hatte. Sie fühlte, dass sie sich wieder entspannte. Sie streckte den Arm aus und zog ihn an sich. Sie küsste ihn auf den Mund und er legte sich neben sie. Sie war plötzlich müde und rutschte ein Stück auf dem Bett nach unten.
»Ich dachte nur, dass du das wissen solltest. Das mit den Haaren«, flüsterte er.
»Okay.« Sie gähnte. »Aber jetzt muss ich schlafen. Ich habe morgen meine Kunstprüfung.«
»Soll ich bei dir schlafen?«
»Ich weiß nicht …«, sie rückte ein Stück von ihm ab.
»Ich meine schlafen . Sonst nichts. Ich dachte nur, dass du dich vielleicht besser fühlst, wenn jemand bei dir ist. Ein Kumpel.«
»Ein Kumpel ?«, lachte sie. »Nach dem ganzen Geknutsche?«
»Nein, wirklich. Dafür haben wir noch genug Zeit. Jetzt wird geschlafen.«
»Okay«, sagte sie.
Warum nicht? Sie hatte keine Lust darauf, allein in dem dunklen Haus zu sein. Sobald die Lichter ausgingen und das Haus ruhig war, könnten die quälenden Gedanken zurückkommen. Der Clown, die Anwältin, der Morgen, an dem sie bei ihrer Mutter im Bett aufgewacht war.
»In Ordnung. Wir schlafen hier. Nebeneinander. Das ist gut.«
»Halt den Gedanken fest«, sagte er. »Ich hole mein Bettzeug.«
Er ging aus dem Zimmer, und sie hörte seine Schritte auf der Treppe. Sie streckte sich aus und machte neben sich Platz auf dem Sofa. Sie rückte das Kissen unter ihrem Kopf zurecht. Sie war müde, ihre Augenlider waren schwer. Sie hörte, wie seine Schritte wieder näher kamen. Er trug eine gestreifte Schlafanzughose und ein T-Shirt.
»Von meinem Vater«, erklärte er. »Das ist mein Schutzanzug. Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann.«
Er legte sich neben sie. Sie lächelte ihn schläfrig an.
»Dreh dich um«, sagte sie.
»Okay«, sagte er und drehte ihr den Rücken zu.
Sie legte ihm den Arm und die Hüfte und schob ihre Beine hinter seine.
»Löffelchen«, murmelte sie.
Er nahm ihre Hand und zog sie dicht an sich.
Teil 3
Haus der Enthüllungen
18
Die Kunstprüfung dauerte zwei Tage. Erst tat ihr der Rücken weh, dann auch noch der Nacken. Sie war insgesamt mehr als acht Stunden im Kunstraum. Außer ihr arbeiteten noch zehn andere Schüler an ihren Projekten. Julie saß ein paar Tische weiter. Aus irgendeinem Grund war sie ganz in Schwarz gekleidet. Sie hatte die Haare zurückgebunden und trug dunkelroten Lippenstift und lange künstliche Wimpern. Lauren hatte sich die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, bis auf eine Strähne, die ihr lose hinterm Ohr hing und mit der sie immer wieder herumspielte, wenn sie ihre Arbeit einen Augenblick unterbrach.
Während sie ihr Werk Stück für Stück zusammensetzte, hörte sie von irgendwoher Radiomusik, ein Jazzstück, das sie nicht kannte. Ab und zu ertönte die Pausenglocke, und der Flur vor dem Kunstraum füllte sich mit Lärm. Nach einer Weile verebbte der Lärm, und man konnte das Saxophon aus dem Radio wieder hören. Sie hielt einen Moment in ihrer Arbeit inne und lauschte. Die meiste Zeit über arbeitete sie konzentriert und nahm nur gelegentlich Julie aus dem Augenwinkel wahr. Die war ganz in ihr Projekt versunken, und ihre Wimpern warfen dunkle Schatten unter ihre Augen.
Als sie am zweiten Tag fertig war, lehnte sie sich zurück und betrachtete ihr Kunstwerk. Eine der endgültigen Collagen zeigte das Fenster eines Puppenhauses, durch das man die winzigen Puppen im Inneren sehen konnte. Ein anderes Bild stellte die umgekehrte Perspektive dar. Ein Gesicht sah durch ein
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