Die einzige Zeugin
Fenster nach draußen, vor dem Stacheldraht gespannt war. Es war eine Schwarz-Weiß-Zeichnung.
Ihre Lehrerin war sehr angetan.
Als sie den Kunstraum verließ, stand Julie draußen und wartete auf sie.
»Kommst du heute Abend zu mir?«, fragte sie. »Ich mache eine kleine Party.«
»Ich habe keine Zeit«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
»Du triffst dich mit diesem Typen aus dem Museum«, sagte Julie. »Komm schon, erzähl!«
»Ich habe jetzt keine Zeit. Ich bin mit meiner Tante zum Telefonieren verabredet. Wir reden morgen, okay?«
»Heißt deine Tante zufällig Nathan ?«, rief Julie ihr hinterher.
Den Rest der Woche verbrachte sie mit den letzten Prüfungen und nach der Schule lernte sie. Außerdem gab es jede Menge Papierkram zu erledigen. Sie wollte nicht zurück an ihre alte Schule in St. Agnes, deshalb musste sie sich am College in Perranporth anmelden. Sie musste ihre Lehrer bitten, ihre Noten und ihre Prüfungsergebnisse weiterzuleiten. Sie musste sich von ihrer jetzigen Schule abmelden. Es kam ihr vor, als müsste wirklich jeder einzelne Lehrer ihre Papiere unterschreiben, bis man sie endlich gehen ließ.
Wenigstens hatte sie so keine Zeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Sie kam fast gar nicht dazu, an ihren Vater und seine Anwältin zu denken. Sogar das Haus und ihre Erinnerungen waren in den Hintergrund getreten. Nur manchmal blieb ihr Blick an der Treppe zum ersten Stock hängen. Meistens aber ging sie schnell und mit gesenktem Kopf direkt in die Küche. Sie aß an dem großen Küchentisch. Sie duschte in dem kleinen Bad im Erdgeschoss. Sie schlief neben Nathan auf dem Sofa im Wohnzimmer.
Mittags ging Nathan zur Arbeit ins Museumscafé. Vormittags machte er mit den Renovierungsarbeiten weiter. Er entfernte die alten Tapeten, strich die Wände und schmirgelte die Tür- und Fensterrahmen ab. Morgens und abends führte er die Hunde aus.
Sie gingen zusammen in den Supermarkt und stapelten die Einkäufe auf dem Rücksitz des Autos. Lauren kochte und machte den Abwasch und kümmerte sich um die Wäsche.
»Mann, sind wir schlimm!«, sagte sie. »Mr. und Mrs. Rollenklischee. Ich schwinge den Kochlöffel, du schwingst die Bohrmaschine!«
Nathan brachte seinen Laptop herunter, damit sie ihre E-Mails lesen konnte.
Sie telefonierte jeden Tag mit Jessica. Sie sagte ihr nicht, dass sie nicht zu Hause in Bethnal Green war. Sie ließ Jessica von ihrem Leben in St. Agnes erzählen. Ihr alter Freund, der gerade aus Südamerika zurückgekommen war, blieb noch eine Weile bei ihr. Sie klang beschäftigt. Und glücklich.
Prince und Duke hatten sich an sie gewöhnt. Sie folgten ihr ins Wohnzimmer und tollten um sie herum, während sie sich auf dem Sofa niederließ, das schon die ganze Woche lang ausgezogen war.
Donnerstagabend lagen sie vor dem Einschlafen nebeneinander auf dem Bett. Nathan schwitzte in seinem Schlafanzug und hatte die Decke zurückgeschlagen. Lauren lag unter ihrer Decke.
»Du weißt ja, wenn du darüber reden willst – ich bin ein guter Zuhörer.«
»Darüber reden?«
»Über das, was hier passiert ist. Vor zehn Jahren.«
Sie antwortete nicht.
»Aber du musst nicht«, sagte er.
»Ich weiß«, sagte sie.
Neben dem Bett drehte sich einer der Hunde auf die andere Seite.
Am nächsten Morgen musste sie nicht früh aufstehen. Als die Hunde munter wurden und durchs Zimmer liefen, ließ sie die Augen geschlossen. Sie merkte, dass Nathan aufstand. Sie hörte ihn durch den Flur tapsen und den Hunden die Gartentür öffnen. Eine Weile später kamen sie zurück. Nathan folgte ihnen und ging zum Fenster. Er öffnete die Fensterläden und helles Tageslicht strömte ins Zimmer. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht. Sie musste die Augen bedecken und sich anders hinlegen.
Plötzlich hatte sie ein komisches Gefühl.
»Was ist los?«, fragte er.
Sie merkte erst jetzt, dass er schon angezogen war.
»Nichts«, sagte sie. Aber die Fensterläden hatten etwas in ihren Gedanken in Bewegung gesetzt.
»Hier steht ein Glas Saft für dich«, sagte er und zeigte neben das Bett. »Ich gehe jetzt mit den Hunden in den Park.«
»Danke.«
Er beugte sich zu ihr und küsste sie.
Als er weg war, lehnte sie sich zurück und trank den kühlen Saft. Sie starrte das Fenster an. Die Fensterläden konnten von innen geöffnet und geschlossen werden. Jetzt war eine der beiden Scheiben noch vom Holz verdeckt. Nach einer Weile stellte sie ihr Glas ab, stand auf und ging zum Fenster. Die
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