Die Eisbärin (German Edition)
geht, wollte sie mir nicht sagen. Aber es scheint wichtig zu sein. Sie wartet schon seit über einer Stunde.“
„Geschickt? Von wem?“
Der Kollege blätterte ein paar Mal vor und zurück und errötete bereits, als er den Namen schließlich fand.
„Martens“, sagte er. „Michael Martens.“
Mittwoch, 24. November, 13.15 Uhr
„Was hast du gemacht?“
Laura schlenderte neben Sabine her und betrachtete das braune Pflaster unterhalb des Kinns ihrer Mutter.
Sabine lächelte matt und drückte die Hand ihrer Tochter ein bisschen fester, um sie zu beruhigen. Sie wusste, dass diese Frage unausweichlich war. Noch eine Lüge, dachte sie traurig. Eine Lüge, auf die sie vorbereitet war, aber die dennoch schmerzlicher war als jede körperliche Verletzung. Das Gefühl, etwas zwischen sich und ihre Tochter zu stellen, das sie voneinander entfernte, sei es auch nur eine Winzigkeit, war ihr zuwider.
„Ich habe nicht aufgepasst und bin im Badezimmer ausgerutscht.“
Sie vermied es, Laura dabei anzuschauen, und betrachtete stattdessen die schmutzigen Pfützen, in denen sich das trübe Grau des Himmels spiegelte.
„Hat es doll weh getan?“
„Nein, Liebes, nur ein Kratzer. In ein paar Tagen ist nichts mehr zu sehen.“
Sie liefen weiter, und Sabine war froh, dass ihre Tochter keine weiteren Fragen mehr stellte. Am Morgen hatte sie direkt nach dem Aufstehen ein Halstuch umgebunden, um ihre Verletzung zu verbergen. So hatte sie Zeit gewonnen, sich eine Geschichte auszudenken, mit der das Pflaster zu erklären war. Die Version mit den nassen Badezimmerfliesen schien ihr plausibel, zumal sie Laura ständig davor warnte, ohne Fußmatte aus der Dusche zu steigen. Als Laura in der Schule war, hatte Sabine ihre Verletzung gründlich betrachten können. Die Wunde war nicht länger als eine Stecknadel, dafür überraschend tief. Sabine konnte sich daran erinnern, dass Kohlmeyer sie während des Handgemenges getroffen hatte. Natürlich wusste sie, dass die Polizei die Spur entdecken würde, dass man somit im Besitz ihrer DNA war und sie zweifelsfrei als Täterin überführen konnte. Aber sie wusste eben auch, dass sie sich keine Sorgen machen musste, solange sie nicht ins Visier der Ermittler geriet. Und dafür gab es keinen Grund. Niemand würde sie verdächtigen. Sie musste nur abwarten und sich ruhig und unauffällig verhalten.
Sabine dachte an das schöne Leben, das ihnen bevorstand. Sie dachte an Markus, der am Nachmittag aus Dresden angerufen hatte. An Weihnachten würde sie ihm ihren Wunsch nach einem zweiten Kind eröffnen. Bis dahin waren es noch genau vier Wochen. Ein ganzer Monat, in dem es nur noch eine Sache zu erledigen galt. Nur diese letzte Sache stand noch zwischen ihr und dem glücklichen Leben, nach dem sie sich schon so lange sehnte. Ein Leben, das sie eigenständig und frei bestimmen konnte. Ein Leben, in dem die dunklen Schrecken ihrer Vergangenheit für alle Zeiten besiegt und vertrieben waren.
„Mami?“
Der beiläufige Ton in Lauras Stimme riss Sabine aus ihren Gedanken.
„Ja?“
„Was ist eine Blasenentzündung?“
Sabine blieb abrupt stehen und betrachtete ihre Tochter voller Sorge.
„Wie kommst du denn darauf, Liebes?“
„Nicole sagt, ihre Mama hat das andauernd.“
Stockend setzte Sabine sich wieder in Bewegung.
„Warum habt ihr denn darüber gesprochen?“
„Wegen gestern Nacht. Ich bin aufgewacht, weil es so gebrannt hat. Das hab ich Nicole erzählt.“
Sabine wurde mit einem Mal nervös, ihr Herzschlag beschleunigte sich, und die Gedanken wirbelten durcheinander. Sie zwang sich zur Ruhe, bevor sie weitersprach.
„Wann bist du aufgewacht, und was hast du dann gemacht?“
„Ich bin aufgewacht, weil ich Pipi musste. Und dann hat es gebrannt. Es tat ein bisschen weh, aber ich hab nicht geweint.“
„Und dann bist du zurück ins Bett gegangen?“
Sabine hörte das Beben in ihrer Stimme, ihre Handflächen schwitzten, und sie löste den Griff, damit Laura es nicht merkte. Es musste während ihrer Abwesenheit passiert sein, sonst wäre sie wach geworden, dessen war sie sicher.
„Ich wollte erst zu dir, aber dann bin ich zurück in mein Zimmer.“
Sabines Herz machte einen Stolperer.
„Du bist nicht in mein Zimmer gekommen?“
„Die Tür war nicht angelehnt wie sonst immer. Du hast sie ganz zugemacht. War das wegen Papi?“
Sabine wurde abwechselnd heiß und kalt, ihre Stimme drohte zu versagen, aber sie zwang sich, die Kontrolle zu behalten.
„Ja. Es ist ungewohnt,
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