Die Eisbärin (German Edition)
Sabine kannte ihn gut und wusste, dass er die Harmonie, die sich in der Familie in den letzten Tagen endlich wieder eingestellt hatte, nicht aufs Spiel setzen würde.
Wie erwartet hatte Markus zugesagt, jedoch nicht ohne darauf zu bestehen, dass das geplante Abendessen nicht in der Pizzeria, sondern zu Hause stattfinden sollte. Sabine hatte Markus einen zärtlichen Kuss gegeben – den ersten seit langer Zeit.
Nun waren die Rollos im Schlafzimmer heruntergelassen, und die Lampe war gedimmt. Im schwachen Schein betrachtete Sabine die beiden gerahmten Fotos an der Wand über dem Kopfende des Bettes. Eines zeigte sie als 24-jährige Braut im Arm ihres stolzen Ehemannes. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie die kleine, kaum erkennbare Wölbung ihres Bauches betrachtete. Ihr Blick schweifte zum nächsten Bild, wo ihr die strahlende Gestalt ihrer Tochter entgegenblickte. Der kleine Körper verschwand beinahe hinter der riesigen Schultüte, und Lauras glückliches Lachen offenbarte die ersten Zahnlücken. Plötzlich verschwamm das Bild vor Sabines Augen, und Lauras fröhliches Gesicht verwandelte sich in eine Grimasse aus Panik und Schmerz, die sie schon viel zu oft hatte sehen müssen. Die furchtbare Maske missbrauchter Kinder.
Unwillkürlich schnappte sie nach Luft und wandte den Blick ab. Sie konnte es nicht ertragen, Lauras Gesicht als Fratze zu sehen, entstellt, entwürdigt, erniedrigt. Der Anblick schnitt Sabine tiefer ins Fleisch, als ihr eigener Schmerz es getan hatte, als sie selbst mit elf Jahren vernichtet worden war. Den Kopf noch immer abgewandt, stieg wieder dieses Gefühl der unbändigen Wut in Sabine hoch – ein Gefühl, das sie mehr und mehr willkommen hieß, das sie mehr und mehr als Befreiung aus ihrem ewigen Gefängnis empfinden konnte. Die Wut würde an die Stelle dieser erniedrigenden Hilflosigkeit treten und würde sie stark machen, sich endlich zu wehren. Mit dieser Wut würde sie sich schützend vor Laura stellen. Diese Fratze ist nicht meine Tochter. Meine Tochter wird nicht von diesem Schwein zu einer Fratze gemacht!
Sabine ballte die Faust. In ihrem Arm sammelte sich alle Kraft, die die Wut in ihr freigesetzt hatte. Sie holte aus, um mit einem gewaltigen Schlag das fratzenhafte Bild des Grauens von der Wand zu fegen. Doch im letzten Moment besann sie sich, stellte ihre Augen scharf, nahm das Foto wahr, sah ihre fröhliche, schuldlose Tochter. Sabine sank in sich zusammen, begann zu zittern und glitt kraftlos auf den Boden neben dem Bett. Den Kopf an den kleinen Nachtschrank gelehnt, liefen lautlose Tränen über ihre Wangen.
Als ihre Tränen langsam versiegten, zog Sabine lautlos die Schublade des Nachtschränkchens auf. Mit zittrigen Fingern kramte sie einen roten Einband hervor. Behutsam löste sie die Schleife, faltete das schützende Tuch auseinander und nahm das Foto in die Hand. Nach den dünnen Bleistiftaufzeichnungen auf der Rückseite datierte die Aufnahme vom 21. September 1987. Sie zeigte ein junges Paar auf einer Gartenbank, die friedlichen Gesichter von der untergehenden Frühlingssonne in zarte Goldtöne getaucht.
Sabine erinnerte sich an jenen Augenblick, es war einer der letzten glücklichen ihres früheren Lebens. Sie selbst hatte damals auf den Auslöser gedrückt. Das Paar auf dem Foto waren ihre Eltern, Gabriele und Heiner Schwarz, aufgenommen vor ihrem Haus in Warendorf bei Münster, dem Ort ihrer behüteten Kindheit.
Wenige Wochen später waren ihre Eltern tot. Sie waren auf dem Rückweg von einem Theaterbesuch gewesen, als ihnen ein betrunkener Fahranfänger auf regennasser Fahrbahn entgegenkam und die Kontrolle über seinen Wagen verlor. Sie waren ohne jede Chance. Drei Menschen ließen in jener Nacht auf der dunklen Landstraße sinnlos ihr Leben.
Mit ihren Eltern wurde damals auch Sabines Kindheit begraben, und sie wurde in eine Welt gestoßen, auf die sie nichts und niemand vorbereitet hatte.
Damals war ich ohne jede Chance. Ich musste mich hilflos in mein Schicksal fügen, stumm sein und gehorchen. Aber damit ist Schluss. Ich werde diese Machtlosigkeit nicht mehr ertragen. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand mir oder meiner Familie jemals wieder Gewalt antut. Nie wieder!
Bei diesem Gedanken kehrte Sabines Entschlossenheit zurück, und als sie das Foto zurücklegte und die Schublade des Nachtschränkchens zuschob, zitterten ihre Finger nicht mehr. Sie hatte keine andere Wahl, als endlich zu handeln. Sie ging hinüber zum Kleiderschrank.
Weitere Kostenlose Bücher