Die Eisbärin (German Edition)
Zeit war nicht einfach.“
„Sie war auch nicht einfach für mich, verdammt noch mal!“ Seine Stimme war offenbar lauter, als er beabsichtigt hatte. Er schien den kleinen Ausbruch sofort zu bereuen und schob nach: „Hör zu, Sabine, ich will keinen Streit. Ich möchte dich bloß verstehen. Ich will wissen, was du da träumst, was dich bewegt. Ich fühle mich so verdammt machtlos.“
Markus senkte den Kopf, und seine Traurigkeit versetzte Sabine einen Stich. Sie ging auf ihn zu, zog einen Stuhl heran und nahm ihn in den Arm.
„Ich denke, du hast recht. Die Sache mit Laura hat mich stark mitgenommen, aber es ist falsch, mich abzukapseln. Entschuldige bitte.“
Zärtlich streichelte sie seinen Hals, während sie mit der anderen Hand sein Kinn hob und sein Gesicht zu ihrem drehte.
„Laura ist heute Nacht nicht hier, wir könnten hoch ins Schlafzimmer und …“
Mit einem perfekt sitzenden Augenaufschlag sah sie ihn an und ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.
„Ich habe zwei Flaschen Wein getrunken“, brummte er mit einem schiefen Lächeln.
„Lass das mal meine Sorge sein.“
Sie nahm seine Hand und zog ihn hinter sich die Treppe hinauf. In Wahrheit war sie nicht in der Stimmung für Zärtlichkeiten. Sie tat es nur, um seinen Ärger zu beruhigen. Ich belüge ihn schon wieder, dachte sie bitter. Doch es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie brauchte noch Zeit. Markus durfte jetzt nicht misstrauisch werden. Wenn sie ihn besänftigen könnte, würde es ihr gelingen, diesen schrecklichen Alptraum zu beenden, bevor er ihre Familie für immer zerstörte. Wenn alles vorbei ist, muss ich ihm nie wieder etwas vorspielen. Eines Tages wird alles wieder so sein wie früher.
Montag, 18. Oktober, 10.30 Uhr
Jürgen Kohlmeyer saß in der schalldichten Kabine, in der rechten Hand hielt er den kleinen weißen Zettel, das Telefon wagte er jedoch nicht zu berühren. Sein Anwalt hatte wie versprochen den Erstkontakt hergestellt und ein Treffen mit Kohlmeyers Bruder vorgeschlagen. Vor einer persönlichen Begegnung fürchtete sich Jürgen Kohlmeyer noch mehr als vor dem anstehenden Telefonat. Doch ob er wollte oder nicht, am kommenden Sonntag würde er nach 29 Jahren die JVA Aachen als freier Mann verlassen, und er brauchte eine Bleibe.
„Du elender Feigling“, beschimpfte er sich selbst. Mit zittrigen Fingern faltete er das Papier auseinander und wählte die angegebene Handynummer. Angespannt führte er den Hörer ans Ohr. Mit jedem Klingeln entspannte er sich ein Stück mehr und wollte gerade erleichtert wieder auflegen, als plötzlich die rauhe, unverkennbare Stimme ertönte.
„Karsten Kohlmeyer.“
„Äh, ja, hier auch.“
Die Nervosität kehrte schlagartig zurück.
„Ich meine, ich bin’s, Jürgen.“
„Hallo, Jürgen. Herr Nienhaus hat mich bereits informiert, dass du anrufen würdest.“
Die Stimme seines Bruders klang freundlicher, als er erwartet hatte.
„Das ist gut. Ich meine, dann weißt du ja schon, worum es geht, oder?“
„Ja, ich bin im Bilde. Herr Nienhaus hat mir alles erzählt. Ein sehr guter Anwalt übrigens, du hast großes Glück mit ihm.“
„Ja, sicher.“
Jürgen Kohlmeyer wusste nicht, was er sagen sollte. Die zurechtgelegten Worte waren weg.
„Hör zu, Jürgen“, hielt sein Bruder das Gespräch in Gang, „du kannst vorerst bei mir bleiben. Gerda hat bereits ein Zimmer für dich hergerichtet. Ich werde dir helfen, so gut ich kann. Aber ich fordere Einsatz von dir. Ich werde nicht zusehen, wie du auf der faulen Haut liegst.“
„Ja, äh, nein. Natürlich nicht.“
„Gut, ich hole dich am Sonntag ab. Nienhaus meint, um 15 Uhr sei alles geregelt. Er wird auch da sein, in Ordnung?“
„Ja, natürlich. Danke.“
„Gut, Jürgen, wir sehen uns am Sonntag. Ich freue mich für dich.“
„Ja. Ach, Karsten“, Jürgen Kohlmeyer nahm seinen ganzen Mut zusammen, „bist du nicht mehr sauer? Ich meine ‒ der Streit damals.“
„Ich weiß nicht mal mehr, worum es überhaupt ging.“
„Nein, ich auch nicht.“
„Mach dir keine Gedanken, bis Sonntag dann.“
Es knackte in der Leitung, und Jürgen Kohlmeyer verharrte mit dem Hörer in der Hand und dachte nach. Einerseits war er erleichtert. In den Worten seines Bruders waren Ansätze von Freundlichkeit und Verständnis. Auf der anderen Seite spürte er, dass seine eigene Unsicherheit noch größer geworden war. Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass seine Welt eine Welt der Mauern, Schlösser und Panzerglastüren war. Die
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