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Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Gereon
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ähnlich angezogen war sie jedenfalls. Schließlich nahm sie den Umschlag und warf einen neugierigen Blick hinein. Als sie das blasse Lila der 500-Euro-Note erkannte, deutete sich unter der dicken Schicht aus Schminke ein Lächeln an. Unsicher steckte die Prostituierte das Geld in ihre Handtasche und zog ein pinkfarbenes Handy hervor. Ohne Sabine weiter zu beachten, lief sie die Treppe hinunter, hielt sich links und steuerte auf die Hauptstraße zu. Sabine konnte einige polnisch klingende Wortfetzen aufschnappen, ehe die Umrisse der Frau von der Dunkelheit verschluckt wurden. Lediglich das Klackern der dünnen Absätze war noch eine Weile zu hören. Dann war es still. Sabine trat in eine dunkle Ecke des Flurs, von der aus sie die Straße überblicken konnte. Zwei Minuten später fuhr der schwere Mercedes vorbei, und Sabine atmete erleichtert auf. Sie hatte mit der Reaktion der Prostituierten gerechnet. Leute in diesen Kreisen scheuten Planänderungen und Kontakte zu Fremden wie Fledermäuse das Tageslicht. Sie waren Geschöpfe der Dunkelheit, die ihr Dasein lieber unter ihresgleichen fristeten.
    Sabine sah auf die Uhr. Verdammt, dachte sie, vier Minuten nach sechs. Hoffentlich ist er nicht bereits misstrauisch geworden.
    Sie war froh, dass die Wohnung von Herbert Lüscher auf der rückwärtigen Flurseite lag. Er konnte von keinem seiner Fenster aus die Straße einsehen, und es bestand zumindest keine Gefahr, dass er Zeuge dieses Aufeinandertreffens geworden war.
    Sabine entschloss sich, nicht zu klingeln, sondern begab sich so schnell und leise wie möglich hinauf in die fünfte Etage. Sie atmete tief durch, steckte die rechte Hand in die Tasche ihres Mantels und umklammerte den Griff des Elektroschockers.
    Die drängende Zeit gab ihr den nötigen Mut, und sie klopfte an. Was würde sie hinter der massiven Holztür erwarten? Mit was umgab sich der Mensch, der hinter seiner unscheinbaren Fassade perverseste Neigungen verbarg? Betrat sie eine abgewrackte Rentner-Wohnung oder einen Hochsicherheitsbunker? Was hast du noch zu verstecken, Lüscher?
    Mit angehaltenem Atem wartete sie auf eine Reaktion jenseits der Tür.

Samstag, 30. Oktober, 18.05 Uhr
    Lüscher ballte die Faust. Die Vorfreude war verflogen. Er bezahlte nicht ein halbes Vermögen dafür, dass man ihn warten ließ. Seit fünf Minuten stand er nun mit dem Finger auf dem Türsummer vor der Gegensprechanlage und wartete auf das Klingeln. Aber es war still geblieben.
    Überrascht stolperte er ein Stück zurück, als es plötzlich klopfte. Einen winzigen Augenblick hielt er inne, ein Anflug von Misstrauen streifte seine Gedanken. Lächerlich, dachte er dann und fegte die Gedanken wie eine lästige Fliege beiseite.
    „Wer ist da?“, fragte er mit fester Stimme, nachdem er sich rasch wieder gefangen hatte.
    „Yvonne“, kam es prompt zur Antwort.
    Er dachte nach, doch der Name sagte ihm nichts. Er wusste nicht, wer ihn heute Abend besuchen würde, wusste es nie vorher. Einer Yvonne war er noch nie begegnet.
    Schließlich siegte die Neugier. Er schob den schweren Riegel zurück und öffnete die Tür so weit, bis die Sicherheitskette spannte und ein schmaler Lichtstreifen auf die Person in dem dunklen Hausflur fiel.
    Was er sah, verblüffte ihn. Die Frau war nicht mehr die Jüngste, doch ihr ungeschminktes Gesicht war makellos. Ihre kleine Gestalt war in einen teuren Mantel gehüllt. Er registrierte große, anziehende Augen, hohe Wangenknochen und sinnliche Lippen. Lächelnd löste er die Kette und zog die Tür weiter auf.
    „Guten Abend, kommen Sie rein“, sprach er die üblichen Worte, unterstrichen von der immer gleichen Geste, einem kurzen, angedeuteten Diener.
    ***
    Sabine war die ganze Zeit über vollkommen ruhig gewesen. Erst als sich die Tür langsam öffnete und sie den Mann dahinter Stück für Stück erkannte, konnte sie das Klopfen in ihrer Brust nicht mehr kontrollieren. Während er sie musterte, schoss ihr durch den Kopf, dass der ganze Plan vollkommen idiotisch und zum Scheitern verurteilt war. Was wollte sie hier? Sie hatte geglaubt, stark zu sein, aber sie war es nicht. Noch konnte sie einfach weglaufen und weiterleben wie bisher, sich in ihr Schicksal fügen.
    Sie kam nicht dazu, weiterzudenken, denn Herbert Lüscher schob die silberne Kette aus der Schiene und öffnete die schwere Tür vollständig. Der Lichtschwall blendete ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen.
    „Guten Abend, kommen Sie rein“, sagte er und verbeugte sich leicht.
    Du

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