Die Eisbärin (German Edition)
Unter einem Stapel Badetücher zog sie die kleine schwarze Tasche hervor und trug sie zum Bett. Sie öffnete den Reißverschluss und betrachtete ruhig die beiden Gegenstände. Den Elektroschocker hatte sie schon betriebsbereit gemacht und sich so lange mit seiner Funktionsweise vertraut gemacht, bis sie ihn blind beherrschte. Sie nahm das Gerät in die Hand, führte es an ihren Hals und betrachtete sich im Spiegel. Sie würde keine Sekunde zögern, den Auslöser zu betätigen, wenn es so weit wäre. Dessen war sie sicher.
Mehr Probleme würde ihr der Einsatz ihrer zweiten Anschaffung machen, fürchtete sie. Sabine legte den Schocker zurück in die Tasche und widmete sich dem Messer. Vorsichtig strich sie mit dem Finger über den harten, glatten Stahl der leicht geschwungenen Klinge. Sie hatte es ausgewählt, weil der für ein Jagdmesser eher dünne Griff gut und sicher in ihrer kleinen Hand lag. Ein ausgeprägter Haken, ein sogenannter Knebel, schützte vor ungewolltem Abrutschen. Sie nahm das Messer in die Hand und führte verschiedene Bewegungen durch. Dann schloss sie die Augen und stellte sich den Mann vor, den sie töten würde. Sie sah ihn sofort vor sich. Seit Tagen waren die schrecklichen Bilder immerzu präsent, lauerten nur darauf, an die Oberfläche zu dringen.
Wieder lag sie in dem kleinen Bett, und ihr Peiniger kam durch das Zimmer auf sie zu. Mit seinem widerwärtigen Grinsen zog er die Bettdecke beiseite und beugte sich herab, um ihr die Hose vom Leib zu zerren. Gekommen, um seinen widerlichen Samen bei ihr loszuwerden, in der Scheide, auf dem Bauch, in den Haaren oder in ihrem Mund. Vielleicht würde er sie zwingen, die stinkende Flüssigkeit herunterzuschlucken. Das war das Schlimmste. Der Magen war der einzige Teil ihres Körpers, über den sie noch allein bestimmte, den niemand zu seinem Vergnügen benutzen und besudeln konnte. Ihr Magen war alles, was ihr noch allein gehörte. Viele Male hatte sie sich das schon bewiesen, wenn sie auf der Toilette den Finger so weit in den Hals gesteckt hatte, wie sie nur konnte. Alles, nur nicht schlucken müssen. Lieber sollte er sie mit der bekannten Mischung aus Sperma und triefender Spucke auf dem Bauch zurücklassen. Alles, nur nicht schlucken müssen . Das Gesicht mit dem dümmlich erregten Grinsen kam näher. Doch dieses Mal war sie vorbereitet. Blitzartig schoss ihre Hand hervor, schnellte in die Höhe und stieß die Klinge in die weiche Stelle genau oberhalb seines Brustbeins. Ungläubig starrte er sie an, während sein Blick langsam glasig wurde und sein übergewichtiger Körper schließlich gurgelnd und blutend über ihr zusammenbrach.
Ihr eigener Aufschrei holte Sabine in die Gegenwart zurück. Keuchend warf sie einen Blick auf die Uhr. 16.38 Uhr. Es war so weit. Sie konnte und durfte nicht länger warten.
Sabine ging die Treppe hinunter zur Garderobe und zog sich an. Der lange, dunkle Mantel, der hochgestellte Kragen, der Schal vor ihrem Mund, das Haarnetz mit der Wollmütze darüber, die braunen Lederhandschuhe. Alles war perfekt. Nichts war von ihr zu sehen, bis auf einen kleinen Ausschnitt über Augen und Nase. Der Trageriemen verlief quer über ihren Oberkörper, die Tasche hing sicher an ihrer rechten Seite.
„Also gut“, sagte sie laut und warf ihrem Spiegelbild einen Blick zu, der das Aufkommen jeglicher Zweifel unterbinden sollte. Dann verließ sie das Haus, zog die Tür ins Schloss und betrat die Welt, die sie verändern würde.
Um 17.09 Uhr parkte sie ihren Wagen am Lindkenshofer Weg, einer relativ stark frequentierten Wohnstraße, die in der Nähe der großen Hauptstraße lag. Hier würde ihr Wagen niemandem auffallen. Kein Mensch würde sich hinterher an ihn erinnern.
Sie stieg aus und ging den restlichen Weg zu Fuß, an der Turnhalle vorbei, eine kleine Linkskurve und dann rechts in den Von-Ossietzky-Ring. Nach etwa 70 Metern war sie am Ziel. Die Uhr an ihrem Handgelenk zeigte 17.18 Uhr. Schon von weitem hatte sie erkannt, dass die Haustür dieses Mal offen stand. Mit gesenktem Kopf nahm sie die letzten Meter, huschte flink in den Flur und entfernte den Keil mit dem Fuß. Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann sah sie sich um. Zunächst überprüfte sie den Kellerabgang. Die dünne Holztür war wie erwartet unverschlossen.
Sie entschloss sich zu einem letzten Erkundungsgang, ehe sie ihr Versteck aufsuchen würde. Leise stieg sie Stockwerk für Stockwerk das dunkle Treppenhaus hinauf. Die einzigen Personen, denen sie
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