Die Eisbärin (German Edition)
Welt der Menschen war ihm vollkommen fremd geworden. In einer Woche würde er ein freier, aber kein glücklicherer Mensch sein.
Kohlmeyer verließ die enge Kabine. Mit einem knappen Nicken in Richtung des Wachmanns machte er sich auf den Weg zurück in seine Zelle.
Montag, 18. Oktober, 17.30 Uhr
„Ein Elektroschocker wehrt durch seine immens hohe Spannung jeden Angreifer ab. Durch die geringe Stromstärke wird jedoch dem Täter kein bleibender Schaden zugefügt.“
Sabine las eine der zahlreichen Produktbeschreibungen. Sie hatte einen ganzen Nachmittag damit verbracht, sich im Internet ausgiebig in die Thematik einzulesen. Nachdem sie alles Wissenswerte erfahren und die Anbieter und Produkte miteinander verglichen hatte, war die Entscheidung für ein 119 Euro teures Gerät gefallen. Es hatte die besten Bewertungen für Qualität, Handhabung und Zuverlässigkeit erhalten. In der Produktbeschreibung las sie weiter: „Er setzt somit den Angreifer äußerst wirksam außer Gefecht und gibt Ihnen ausreichend Zeit zur Flucht.“
Das Gerät wird mir ausreichend Zeit geben, ganz andere Dinge zu tun. Und einen bleibenden Schaden wird es auch geben.
Zufrieden löschte sie den Verlauf besuchter Seiten, schloss den Internet Explorer und fuhr den Rechner herunter.
Am nächsten Morgen würde sie in ihre Winterkleidung schlüpfen, nach Oberhausen fahren und sich in einem Fachgeschäft das ausgewählte Gerät besorgen. Über das zweite Objekt, das sie brauchte, hatte sie sich ebenfalls schon informiert. Auch hier wusste sie bereits genau, wie und wo sie es bekommen konnte. Bald schon würde sie in der Lage sein, gegen ihren Dämon anzutreten.
Freitag, 29. Oktober, 10.35 Uhr
Er hatte bereits 20 Minuten lang gewartet, als endlich nur noch ein Mann vor ihm in der Schlange stand. Missmutig hörte er mit an, wie der Mann versuchte, sein Anliegen in gebrochenem Deutsch vorzutragen. Wilde Gesten begleiteten die lautstarken Wortfetzen des Türken.
Wenn du sie anschreist, wird sie dein jämmerliches Gestammel auch nicht besser verstehen, dachte Lüscher. Verdammtes Pack, schert euch doch alle zum Teufel.
Schließlich zog der Türke schimpfend und unverrichteter Dinge ab und ließ eine strenge Duftwolke aus Rasierwasser zurück.
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, begrüßte ihn die junge Frau hinter dem Schalter mit einem freundlichen Lächeln. Er kannte sie nicht. Offenbar schon wieder eine von diesen unfähigen Auszubildenden, dachte er übellaunig.
„Ich brauche Bargeld“, sagte er ohne Umschweife und ohne Höflichkeitsfloskel. „500 Euro.“
„Dann brauche ich Ihre EC-Karte, bitte.“
Er hatte die Antwort der jungen Frau bereits erwartet.
„Fräulein, ich habe keine Karte.“
Ohne sie anzublicken, wühlte er in seiner Brieftasche.
„Wenn Sie sich über die Vorteile einer EC-Karte informieren möchten, kann ich gerne einen Termin für Sie …“
„Hören Sie, das verdammte Plastikzeug interessiert mich nicht“, unterbrach er sie barsch.
Während der perplexen Frau eine nervöse Röte ins Gesicht stieg, kramte er seinen Personalausweis hervor und nannte seine Kontonummer. Die Bankangestellte überprüfte die Angaben in ihrem Computer und nickte schließlich. Sie ließ sich keine Verärgerung anmerken, sondern behielt ihre geschulte Freundlichkeit. Routiniert führte sie die Auszahlung durch.
„Vierhundertfünfzig, siebzig, achtzig, neunzig, und fünfhundert. Hier bekomme ich bitte noch eine Unterschrift.“
Herbert Lüscher steckte das Geld in die Brieftasche und verließ grußlos die Sparkasse.
Auf dem Weg zu seinem Wagen dachte er daran, dass er von seinem Rhythmus abwich, weil er sich das Abenteuer nun zum dritten Mal in Folge leistete. Aber er hatte eine schlechte Woche hinter sich und fand, er habe sich die kleine Abwechslung am folgenden Tag verdient. Doch zunächst musste er seine Vorräte auffüllen. Er startete den Motor.
Samstag, 30. Oktober, 16.15 Uhr
Sabine saß reglos auf dem gemeinsamen Ehebett. Im Haus war es totenstill. Markus war mit Laura und Nicole in den Allwetterzoo in Münster gefahren. Der Ausflug war schon seit langem geplant gewesen, und Sabine hatte die drei überredet, ihn nicht ausfallen zu lassen, auch wenn sie selbst aufgrund eines neuerlichen Migräneanfalls nicht mitkommen konnte.
„Die Kinder haben sich so darauf gefreut, enttäusche sie nicht!“, hatte sie Markus eindringlich ermahnt und ihn lange dabei angesehen. Ihr Mann hatte ebenso lang zurückgeblickt.
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