Die Eisbärin (German Edition)
begegnete, waren eine Türkin und eine riesige Kinderschar, die die dicke, verschleierte Frau wuselnd und schreiend umgab. Sabine senkte den Blick und ging grußlos vorbei. Schließlich erreichte sie die fünfte Etage und hielt inne. Alles schien unverändert seit ihrem letzten Besuch. Sie sammelte sich kurz und schlich in den dunklen Flur. Alles war vollkommen ruhig. Erst als sie dicht vor der Wohnungstür stand, konnte sie die schwachen Geräusche des Fernsehers hören. Beruhigt kehrte sie auf leisen Sohlen zurück nach unten.
Sie ging an der Haustür vorbei und stieg die Treppe in den niedrigen, unverputzten Keller hinab. Die Tür zog sie nur so weit zu, dass ein schmaler Spalt offen blieb. Sie wagte nicht, das Licht einzuschalten, obwohl ihr die klebrigen Fäden im Gesicht das Gefühl vermittelten, längst ein willkommenes Ziel für unzählige Spinnen und andere Krabbeltiere geworden zu sein. Der muffig feuchte Geruch war hier unten fast unerträglich, und sie fragte sich, ob der Keller überhaupt jemals genutzt wurde. Wenn wider Erwarten jemand die Kellertreppe hinunterkäme, könnte sie schnell das Licht einschalten und so tun, als wolle sie gerade wieder hinauf.
Sabine dachte über ihre Lage nach. Natürlich hatte sie andere Möglichkeiten durchgespielt, aber keine erschien ihr bei gleichen Erfolgsaussichten geeigneter zu sein. Sie konnte nicht einfach an seiner Tür klingeln, denn er würde niemals fremden, unerwarteten Besuch einlassen. Die Idee, einzubrechen, hatte sie ebenfalls verworfen. Das Sicherheitsschloss war wohl nicht die einzige Vorkehrung, die Lüscher getroffen hatte, und aus der Übung war sie auch. Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, abzuwarten, bis die Prostituierte die Wohnung wieder verlassen hatte, und ihre Rückkehr vorzutäuschen. Ihr war jedoch kein Grund eingefallen, mit dem sie das hätte plausibel machen können. Ihre einzige Chance war der Überraschungseffekt, Misstrauen im Vorfeld konnte sie nicht gebrauchen. Sie musste diesen Weg wählen, zumal er die größtmögliche Sicherheit garantierte, Herbert Lüscher tatsächlich allein anzutreffen.
Sabine schob ihre Unsicherheit beiseite und presste das Gesicht an den Türspalt. Der modrige Geruch des Holzes stieg ihr in die Nase, und der Geschmack von alter Farbe legte sich pelzig auf ihre Zunge. Doch sie ignorierte das Unbehagen und postierte sich so, dass sie einen möglichst großen Ausschnitt der Haustür im Blick hatte.
Ihr Instinkt hatte ihr schon einmal geholfen und sie hierher in dieses Hochhaus geführt. Auch dieses Mal würde er sie nicht im Stich lassen. Herbert Lüscher war ein Mann der festen Gewohnheiten, und er führte ein krankes, perverses Sexualleben. Sabine hatte bereits an mehreren Tagen auf der Lauer gelegen. Am letzten Samstag um Punkt 18.00 Uhr, also genau eine Woche nachdem sie zum ersten Mal eine Besucherin hatte kommen sehen, hatte sie erneut Glück gehabt. Der Mercedes war ihr von ihrem Beobachtungsposten aus sofort aufgefallen. Dieses Mal jedoch war eine andere junge Frau ausgestiegen und für 40 Minuten im Hochhaus verschwunden.
Irgendeine Frau wird auch heute kommen, dachte Sabine, während ihre schwarzgekleidete Gestalt mit der Dunkelheit des Kellers verschmolz.
Dann war es so weit. Um 17.55 Uhr war das dumpfe Bollern eines großvolumigen Motors zu hören. Sofort beschleunigte sich Sabines Puls, und sie fixierte den Eingangsbereich mit voller Konzentration. Sie hörte das Zuschlagen einer Autotür, und kurz darauf erkannte sie eine junge Frau draußen auf den Stufen. Teurer Mantel, Stiefel, hübsches Gesicht. Es geht los .
Blitzartig glitt Sabine aus ihrem Versteck und hastete die Treppe hinauf. Noch bevor die Frau auf die Klingel drücken konnte, war Sabine an der Haustür. Heftiger als beabsichtigt stieß sie sie auf. Erschrocken fuhr die andere herum.
„Meine Güte!“, presste sie hervor, und ihr Akzent verriet eine osteuropäische Herkunft. Sabine war sicher, dass es sich nicht um eine der beiden Frauen handelte, die sie bereits gesehen hatte.
„Entschuldigen Sie bitte, das wollte ich nicht“, antwortete sie freundlich und bemüht, leise zu sprechen. Sie griff in die Innentasche ihres Mantels und zog den Briefumschlag hervor.
„Das ist für Sie“, sagte sie knapp und streckte der Frau den Umschlag entgegen. „Der Termin bei Lüscher fällt heute aus.“
Die junge Frau musterte sie misstrauisch, und Sabine dachte, dass die Prostituierte sie für eine Konkurrentin halten musste,
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