Die Eisbärin (German Edition)
es geschehen.
Sabine kroch durch die Öffnung im Zaun, erreichte die Hauswand und verschwand auf der Treppe zum Keller. Leise nahm sie Stufe für Stufe. Die alten Steinplatten schienen nur darauf zu warten, dass jemand auf ihnen ausrutschte und sich die Knochen brach. Den Eingang zum Keller versperrte eine niedrige Holztür, von deren morscher Außenhaut die Farbe blätterte. In den Ecken hingen dicke Spinnweben, brackiges Regenwasser verströmte einen muffigen Geruch. Als Sabine das alte Schloss erblickte, spürte sie fiebrige Erleichterung. Sie hatte mit weit Schwierigerem gerechnet.
Wieder öffnete sie ihre Tasche und zog das passende Werkzeug heraus. Das Metall fühlte sich schwer an, fremd und vertraut zugleich. Es war 18 Jahre her, dass sie das letzte Mal mit etwas Ähnlichem unterwegs gewesen war. Flüchtig dachte sie an die Zeit, in der sie es im Umgang damit zu zweifelhaftem Ruhm gebracht hatte. Sie wischte die Gedanken beiseite und setzte das Gerät in Position. Sie justierte die Spitze, dann begann sie zu drehen. Gleichmäßig, präzise und leise fraß sich der harte Bohrkopf Stück für Stück in das Metall des alten Zylinders. Danach nahm sie den kleinen Maulschlüssel und drehte an den übrigen Schrauben. Die Spitzen stemmten sich gegen das Türblatt und erzeugten immer größere Spannung. Ein letzter Dreh, dann gab der Zylinder nach und brach mit einem dumpfen Knacken in zwei Teile. Sabine gab acht, dass nichts zu Boden fiel. Vorsichtig zog sie die Bruchstücke heraus und verstaute sie zusammen mit dem Werkzeug in ihrer Tasche. Ein weiterer Handgriff, und die Tür war offen. Knatternd bewegte sie sich in den rostigen Angeln.
Sabine schaltete eine kleine Taschenlampe an und betrat den Kellerraum. Der schwache Lichtkegel huschte über verstaubte Fahrräder und rostige Spaten. In den Ecken türmten sich ölverschmierte Kanister und alte Autoreifen. Hier ist lange niemand mehr gewesen, dachte sie und registrierte den Mäusekot auf dem rauhen Betonboden. Die Tür auf der anderen Seite war nur angelehnt. Langsam ging sie darauf zu, löschte das Licht und legte das Ohr an den Spalt. Doch so angestrengt sie auch lauschte, es war nichts zu hören. Nichts, bis auf ein dumpfes, gleichmäßiges Bollern ganz in der Nähe.
Sie trat in den Türspalt und erkannte im Schein der Taschenlampe einen schmutzig weißen Flur und eine weitere Holztür. Vorsichtig schlich sie hinaus. Das Geräusch kam eindeutig aus dem Kellerraum gegenüber. Sabine war sicher, dass es das Brummen einer Heizungsanlage war. Sie rechnete nicht damit, hier unten jemandem zu begegnen, aber die Finger ihrer rechten Hand klammerten sich die ganze Zeit über fest um den Griff ihrer Waffe. Sie lief zum Absatz der Treppe und leuchtete hinauf. Die Stufen waren schmal, uneben und tief. Am Ende wartete wieder eine Tür. Vorsichtig begann sie den Aufstieg. Die Treppe war aus Stein. Kein Knarzen, kein Knacken konnte sie verraten. Dann war sie oben. Für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus, als sie das massive Schloss erblickte. Wenn diese Tür verriegelt war, war alles vorbei. Das Werkzeug hier oben einzusetzen, kam nicht in Frage. Einem alarmierten Hausbewohner wäre sie nicht gewachsen, das wusste sie. Ihre Mission konnte nur dann gelingen, wenn sie die wenigen Vorteile, die ihr blieben, auch nutzte.
Wieder presste sie das Ohr gegen das Holz, um zu lauschen. Nichts als Stille. Sabine hielt den Atem an, ihre Sinne waren geschärft. Jede Faser ihres Körpers war bereit für das, was hinter dieser Tür auf sie wartete. Dann drückte sie die Klinke. Der Weg war frei. Die Jagd konnte beginnen.
***
Er schreckte hoch und riss die Augen auf. Günther Klein brauchte einen Moment, um zu wissen, wo er war. Manchmal hatte er Alpträume, er wusste, wie sie sich anfühlten. Doch das hier war etwas anderes. Er befühlte seinen Körper. Kein Herzrasen, keine Schweißausbrüche. Er war sicher, etwas gehört zu haben. Kurz, spitz und durchdringend. Möglicherweise der Schrei einer Frau, ein Kind vielleicht? Er wartete, ob sich das Geräusch wiederholte. Manchmal begegneten sich verfeindete Katzen auf ihren nächtlichen Streifzügen vor seinem Haus. Dann meinte er jedes Mal, einem Kampf auf Leben und Tod beizuwohnen. Die Laute, die diese Tiere von sich gaben, gingen ihm stets durch Mark und Bein. Klein wartete noch eine Weile, dann legte er sich wieder hin. Vielleicht hatte er sich das Geräusch nur eingebildet, dachte er und schob es auf den langen, harten Tag,
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