Die Eisbärin (German Edition)
der hinter ihm lag. Einen Moment lang zwang er sich noch, wach zu bleiben und zu lauschen. Dann drehte er sich auf die Seite und schloss die Augen. Sekunden später war Günther Klein wieder eingeschlafen.
***
Jede einzelne Zelle ihres Körpers war gespannt, als sie unmittelbar vor dem Ziel stand. Die körperliche Intensität dieses Gefühls war immens. Sie fühlte sich wie ein Magnet, der einem zweiten Magneten mit Macht entgegengezogen wurde. Dennoch schlug ihr Herz ganz ruhig.
Hinter der einzigen geschlossenen Tür im Erdgeschoss war ein gedämpftes Schnarchen zu hören. „Keep Out“, las sie auf einem alten, verbeulten Blechschild, das jemand mit Geschenkband am Türblatt befestigt hatte. Plötzlich bekam sie eine Gänsehaut. Sabine empfand tiefsten Ekel und Abscheu vor den Menschen, die hier lebten. Der Zustand des Hauses verstärkte ihr Gefühl. Verkommenheit, Schande und Niedertracht, versteckt hinter einer Fassade aus Scheinheiligkeit und bürgerlicher Normalität.
Draußen riss der Wind an den Rollläden vor den Fenstern, doch in dieser Nacht war sie selbst der Orkan, der die Mauern zum Einsturz bringen und Gerechtigkeit walten lassen würde. Sie war die Naturgewalt, die Rache im Namen all jener nahm, die nicht für sich selbst kämpfen konnten.
Sabine zwang sich zur Konzentration. Schweiß lief ihr die Stirn hinunter in die Augen und tropfte in den Schal vor ihrem Mund. Sämtliche Fenster im Erdgeschoss waren geschlossen. Die Mischung aus Heizungswärme, dem Geruch von Essen aus der Küche und dem abgestandenen Rauch unzähliger Zigaretten drohte ihre Sinne zu vernebeln.
Ihre Hand fuhr in die Jackentasche und zog den Schocker hervor. Sabine schaltete ihn ein und wartete auf das Aufleuchten der grünen LED, die Einsatzbereitschaft signalisierte. Dann öffnete sie den Reißverschluss ein Stück, griff in die Innentasche und zog behutsam das Messer aus der Lederscheide. Ein letztes Mal vergewisserte sie sich, dass alles im Haus ruhig war, dann drückte sie die Klinke herunter.
In der reglosen, dunklen Stille raste eine Flut von winzigen Eindrücken auf sie zu und überforderte ihre Sinne für einen Moment. Das leise Quietschen der Scharniere, das lauter werdende Schnarchen, die Größe des Raums, die Lage des Bettes, der schwache Schein eines Weckers, alles drang ungefiltert zu ihr durch und beanspruchte ihr gesamtes Bewusstsein. Ein paar Sekunden verharrte sie reglos im Türrahmen, dann war sie endlich wieder Herr ihrer Sinne.
Das Bett des Mannes stand in der Mitte des Raumes, etwa drei Meter von ihr entfernt. Zuerst erkannte sie nur die längliche Gestalt eines zugedeckten Körpers. Sabine schlich näher heran, behende und geräuschlos wie ein Panther. Jetzt war sie noch einen Meter entfernt. Die Weckeruhr zeigte 02.45 Uhr. Der Mann vor ihr lag auf der Seite, das Gesicht zur gegenüberliegenden Seite des Raumes gewandt. Sie betrachtete seinen Hinterkopf. Im Vergleich zu dem Foto aus den Medien war sein Haar länger geworden, die Farbe konnte sie nicht ausmachen. Dann fixierten ihre Augen seinen Nacken. Dieser breite, halslose Nacken. Sabine kämpfte die unbändige Wut nieder, die in ihr aufstieg. Sie musste sich an den Plan halten, durfte jetzt keinen Fehler mehr begehen. Sie suchte den Körper nach einer passenden Stelle ab und wurde fündig. Der Mann trug kein T-Shirt, und die Decke war am Rücken etwas zur Seite gerutscht. Unter dem rechten Schulterblatt würde sie ansetzen. Der Schock würde ihn wehrlos machen, und dann würde sie zustechen. In diesem Moment gebot sie ihren Emotionen nicht länger Einhalt. Wut und Hass blähten sich in ihr auf zu einem Ballon, der sie zu sprengen drohte. Sie ging den letzten Meter eine Spur zu schnell, ihr Schienbein stieß leicht gegen das Bettgestell. Sie bemerkte es nicht. Dann hob sie die rechte Hand.
***
Er sah die Gesichter seiner Töchter, so wie in jeder Nacht. Eva saß auf einem Stuhl vor seinem Bett, Caro lehnte weiter hinten am Fenstersims, die Hände lässig in den Hosentaschen. Sie starrten ihn an, und er erzählte ihnen seine Geschichte. Die ewig gleiche Geschichte von seiner Kindheit mit dem strengen Vater, von seiner Hochzeit, dem Glück und der Freude bei der Geburt seiner Töchter. Die Geschichte von Rückschlägen und Misserfolgen, dem Verlust seiner Arbeit, den Depressionen.
Er war gerade an der Stelle, an der es um das Zerwürfnis zwischen ihm und der Mutter ging. Er habe sich nach Liebe gesehnt in diesen Jahren, nach Zärtlichkeit.
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