Die Eisbärin (German Edition)
Finger. „Ich liebe dich“, flüsterte sie und spürte, wie die Gefühle sie zu überwältigen drohten.
Mit einem Ruck, der ihre Entschlossenheit wiederkehren ließ, richtete sie sich auf und verließ das Zimmer ebenso lautlos, wie sie gekommen war. Sie ging nach unten, legte die restliche Kleidung an und verstaute die beiden Waffen in ihren Jackentaschen. Sie sah in den Spiegel, konnte jedoch nichts erkennen. Ihre Gestalt war eins geworden mit der Dunkelheit, verschmolzen mit den nächtlichen Schatten.
Es ist so weit. Bring es zu Ende.
Sie trat hinaus und zog die Tür mit einem kaum hörbaren Klicken ins Schloss. Den Wagen hatte Sabine an der Straße stehenlassen. Mit wenigen Schritten verließ sie das Grundstück. Sie stieg ein, startete den Motor und fuhr davon.
***
Mühsam wälzte Heinrich Thaler sich auf die andere Seite, das wievielte Mal es in dieser Nacht schon war, wusste er nicht. Die Schmerzen ließen nicht nach, gönnten ihm keine Minute der Erholung, die er doch so sehr benötigte. Er hörte das Schnarchen seiner Frau im Bett neben ihm. Das trockene, kehlige Rasseln einer harten, alten Frau. An Schlaf war nicht zu denken. Er schlug die Wolldecke zurück und setzte sich langsam auf die Bettkante. Seine Füße fanden die Pantoffeln, und es gelang ihm, sich aufzurichten. Es war stockdunkel, was Heinrich Thaler nicht störte. Sein Gedächtnis hatte 83 Jahre lang Zeit gehabt, sich die baulichen Gegebenheiten des Hauses einzuprägen.
Er schlurfte in die Küche, nahm ein Glas von der Spüle und füllte es mit Wasser aus dem Hahn. Noch bis vor wenigen Jahren war er zum Wasserholen regelmäßig hinaus in den Garten gegangen und mit einem Kanister voll Brunnenwasser zurückgekehrt. Eines Tages hatte seine Frau Margot verkündet, sie wünsche sich ein bisschen mehr Luxus auf ihre alten Tage. Am Wochenende darauf hatte Heinrich das Loch für die Anschlüsse gegraben.
Der alte Mann ging hinüber zum Ofen und lehnte sich an. Die Restwärme kroch in seinen Rücken und machte die Schmerzen erträglicher. Das Alter ist ein Fluch, dachte er traurig. In über 50 Jahren täglicher, harter Feldarbeit war er kein einziges Mal ernsthaft erkrankt. Doch in den letzten Jahren schien der körperliche Verfall im Eiltempo voranzuschreiten. Kaum eine Woche, die schmerz- und beschwerdefrei verlief. Aber Margot und ich, wir haben immer noch uns, dachte er, und dafür müssen wir dankbar sein. Er löste sich vom Ofen und ging hinüber zum Fenster. Seine Augen waren noch gut, doch in der Dunkelheit über seinen Feldern konnte auch Heinrich nichts erkennen. Plötzlich dachte er an den Tod und fragte sich, was ihn erwarten würde. Im Grunde war es ihm egal, wenn er im Jenseits nur nicht von einer so unendlichen Finsternis umgeben wäre, wie sie außerhalb seines schützenden Hauses in dieser Nacht zu lauern schien.
***
Sie glitt durch die pechschwarze Nacht, gleichmäßig und unbeirrbar wie ein Wal auf seiner Reise durch die Weiten des Ozeans. Sabines Wagen schien den Weg von allein zu finden, als würde er angezogen von ihrem Ziel und getragen und geleitet vom Wind ihrer kühnen Entschlossenheit. Sie überquerte die Ruhrbrücke und folgte dem kurvigen Verlauf der Hauptstraße bis zum Friedhof, wo sie in einen schmalen Feldweg einbog. Die Landschaft wurde hügeliger, der Weg holpriger. Nach einer Weile endete auch die letzte, spärliche Bebauung. Rechts und links nichts als Äcker und Felder, dunkle, windgepeitschte Erde. Dann erfassten die Scheinwerfer den kleinen Weg, der sie in den Schutz des Dickichts führte. Sabine drosselte die Geschwindigkeit, öffnete das Fenster und hielt Ausschau. Hunderte Male war sie hier entlanggefahren, mit Branca hinten auf der Ladefläche, doch in der Nacht war alles fremd. Die Bäume schienen näher, höher und mächtiger, die Bewegungen der Äste stärker und das Rascheln und Flüstern lauter als am Tage.
Hab keine Angst. Heute bist auch du ein Geschöpf der Dunkelheit. Sie ist dir Freund.
Dann tauchte er vor ihr auf. Der kleine Parkplatz lag links des Weges, halb verdeckt durch Büsche und dornige Sträucher. In den Sommermonaten zog es zur Nachtzeit gelegentlich junge Pärchen hierher, die ungestört sein wollten, doch heute war er vollkommen leer. Niemand würde sie bemerken. Sabine parkte in der Ecke, die am wenigsten einzusehen war, das Heck zum Wald, die Front in Richtung Ausfahrt. Sie schaltete den Motor aus und löschte die Innenbeleuchtung. So verharrte sie eine Weile, lauschte in
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