Die eisblaue Spur
Erfahrung zu bringen,
aber niemand wollte mit uns reden. Wir hätten die Knochen nie
entfernt, ohne zu überprüfen, ob wir damit jemanden
verletzen. Wir haben zwar nichts rausgekriegt, es aber immerhin
versucht.«
»Hättet ihr die Piste
nicht woanders legen können?«
»Nein, ausgeschlossen. Die
Gegend ist ziemlich hügelig, eine andere Strecke kam nicht in
Frage. Der Bohrwagen kommt keine steilen Anhöhen rauf. Und wir
hatten ja keinen Einfluss darauf, wo gebohrt werden sollte. Das
waren Anweisungen vom Bergbaukonzern.«
»Haben alle im Camp von
dem Knochenfund gewusst?«
»Am Anfang nur die, die
das Grab entdeckt hatten. Wir dachten zuerst, es wäre
irgendein merkwürdiges Naturphänomen, das der
zurückgehende Gletscher freigelegt hat, aber dann haben wir
zwischen den Steinen etwas aufblitzen sehen. Wenn wir das nicht
gesehen hätten, hätte die Planierraupe alles in
Sekundenschnelle zermalmt.«
»Ihr habt also die Knochen
mitgenommen und in eure Schreibtischschubladen gelegt?«
Dóra war ziemlich entsetzt, aber sie war ja auch noch nie im
freien Gelände von einem Grab daran gehindert worden, ihrer
Arbeit nachzugehen.
»Ja, wir haben sie
mitgenommen. Das fanden wir weniger schlimm, als sie einfach neben
die Piste zu werfen.« Der Mann ging nicht weiter auf den
Aufbewahrungsort der Knochen ein.
»Aber warum waren sie in
allen Büros verteilt? Hättet ihr sie nicht an einem Ort
aufbewahren können?«
»Die Schubladen kann man
abschließen, und wir wollten die Knochen nicht offen
rumliegen lassen. Mehr will ich dazu nicht sagen. Da fragst du
besser andere. Wenn du im Camp warst, dann weißt du ja, dass
in meinem Schreibtisch keine Knochen lagen.«
Da hatte der Mann recht, und
Dóra wollte ihn nicht weiter bedrängen, damit er nicht
einfach auflegte. »Und ihr habt keine Ahnung, wer der Tote
sein könnte?«
»Nein. Aber als wir den
Sack aufgeschnitten haben ...« Der Mann verstummte.
»Die Polizei erfährt im Dorf bestimmt mehr darüber.
Diese Leute wissen doch genau, wer das war. Ich bin mir
hundertprozentig sicher, dass die Einheimischen die Polizei nicht
so abblitzen lassen wie uns.«
»Was habt ihr in dem Sack
gefunden?« Dóra wollte sich nicht darauf verlassen,
dass die Grönländer ihren Behörden derartigen
Respekt entgegenbrachten, dass sie auf einmal ganz gesprächig
wurden. Wenn der Mann etwas wusste, dann musste er es ihr sagen.
»Vielleicht hat das Grab ja gar nichts mit dem Dorf zu tun.
Die Leute meiden das Gebiet wie die Pest und bringen bestimmt nicht
ihre verstorbenen Angehörigen dorthin. Das, was ihr gefunden
habt, kann sehr wichtig sein ...«
»Uhh. Es ... es war eine
Halskette.«
»Kannst du sie beschreiben
und mir sagen, was mit ihr passiert ist?« Vielleicht lag die
Kette in einer der Schubladen unter den Knochen.
»Das war so typischer
Inuitschmuck. Ein geschnitzter Knochen an einer silbernen Kette,
keine Ahnung, ob die echt war.« Der Mann zögerte und
sprach dann weiter: »Das Komische war, dass die Kette nicht
um den Hals des Skeletts hing, sondern im Becken lag. Wir haben den
Fellsack ganz vorsichtig aufgeschnitten, die Kette kann also nicht
verrutscht sein. Ich dachte, sie hätte vielleicht in der
Jackentasche gelegen und wäre runtergefallen, als die Kleidung
vermodert ist, aber mein Kollege war sich sicher, dass sie im Magen
der Leiche gelegen hat. Aber ich meine, wer verschluckt denn eine
Halskette?«
»Und wo ist sie
jetzt?«
»Keine Ahnung. Als ich sie
das letzte Mal gesehen habe, hing sie an der Korkpinnwand neben der
Kaffeemaschine. Da müsste sie eigentlich noch sein. Der
Anhänger war eine Möwe, und auf der Rückseite war
etwas eingeritzt. Vielleicht der Name des
Künstlers.«
»Was stand denn da?«
Dóra nahm einen Stift und Matthias’ Notizbuch vom
Tisch.
»Ich weiß nicht mehr
genau. Es war ein längeres Wort auf der Rückseite der
Flügel. Corinna oder Christina oder so.«
Dóra legte das
Schreibzeug weg. Es war nicht nötig, das aufzuschreiben.
»Usinna?«
»Hm, kann schon
sein.« Der Mann verstummte. »Glaubst du, dass Bjarki
und Halldór tot sind?«
Dóra musste ehrlich
antworten, alles andere wäre unfair gewesen. »Ja, da bin
ich mir ziemlich sicher, leider. Wir haben keine Hinweise gefunden,
die dagegen sprechen, dass sie draußen umgekommen sind.
Wahrscheinlich haben sie sich bei einem Unwetter verirrt.«
Letzteres fügte sie hinzu, damit die Mitarbeiter vielleicht
doch dazu zu bewegen waren, ohne Androhung von Kündigung ins
Camp
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