Die eisblaue Spur
Eis vergruben.
Dóra ging zurück zu
Matthias. »Ich glaube, ich habe eine Erklärung für
die Knochenfigur aus dem Bohrwagen gefunden. Es könnte ein
Tupilak sein, der von den ersten Siedlern angefertigt und
später vergraben wurde. Das würde zu der Geschichte
passen, die mir die Bedienung eben erzählt
hat.«
»Wäre das gut oder
schlecht?« Matthias hämmerte auf der Tastatur herum und
wirkte etwas abwesend.
»Für die Bank
schlecht. Man kann sich ja nicht auf Höhere Gewalt berufen und
einer kleinen Knochenfigur die Schuld geben. Wie hässlich sie
auch sein mag.«
Matthias hörte auf zu
tippen. »Dann erwähne ich das wohl lieber
nicht.«
»Vielleicht müssen in
dem Gebiet archäologische Grabungen durchgeführt werden.
Damit könnten wir ein bisschen Zeit schinden. Die Figur, die
wir gefunden haben, könnte das einzige erhaltene Exemplar
eines Tupilaks in seiner ursprünglichen Form
sein.«
Matthias wurde hellhörig.
»Das wäre doch besser als nichts.«
»Hast du die Telefonnummer
von Arnar bekommen?« Dóra betrachtete die lange Liste
ungeöffneter E-Mails in Matthias’ Postfach.
»Noch nicht – ich
hab die Anfrage gerade erst losgeschickt. Den
Geschäftsführer von Bergtækni habe ich auch danach
gefragt, der muss ja Informationen über seine Mitarbeiter
haben. Er soll uns mal sagen, wer von seinen Leuten uns sonst noch
weiterhelfen könnte. Hat aber noch nicht
geantwortet.«
»Können wir nicht
einfach in der Firma anrufen?« Dóra holte ihr Handy
aus der Tasche.
Bei Bergtækni kam eine
höfliche, aber resolute Frau an den Apparat, der Dóra
ihr Anliegen schilderte.
»Wie könnte es auch
anders sein«, sagte sie, als das Gespräch beendet war,
»wir müssen auf eine Antwort vom Chef oder von der Bank
warten. Arnar ist in einer Entzugsklinik und nicht zu
erreichen.«
»So ein Pech. Es wäre
nicht übel, wenn wir der Polizei die Sache mit den Knochen in
den Schubladen erklären könnten. Ich glaube nicht, dass
wir sonst hier wegkommen.«
»Und was ist mit der
Leiche im Kühlraum?«
»Hoffentlich kommen sie zu
der Schlussfolgerung, dass die Leiche noch nicht lange da gelegen
hat. Sie wurde bestimmt erst in den Kühlraum geschafft, als
das Team schon abgereist war.«
Dóra reagierte nicht
darauf. Wer menschliche Knochen in einer Schreibtischschublade
aufbewahrte, konnte ebenso gut eine Leiche in einen Kühlraum
schleppen. In Matthias’ Postfach ploppte eine neue Mail
auf.
28.
Kapitel
23. März 2008
Die Mail kam vom
Geschäftsführer der Firma Bergtækni, der auf den
Azoren weilte. Offenbar war der Mann ziemlich beunruhigt, immerhin
hing die Zukunft seines Unternehmens von einer Übereinkunft
mit dem britischen Bergbaukonzern Arctic Mining ab. Seine E-Mail
war wirr, und er hatte keine wirkliche Vorstellung, wie er die
Verzögerungen in Grönland aufholen sollte, falls sich das
Team weiterhin weigerte, dorthin zurückzukehren. Er schrieb,
er habe zwei andere Bohrmänner seiner Firma davon
überzeugen können, für Bjarki und Halldór
einzuspringen. Anscheinend ging er davon aus, dass die Männer
tot waren. Er glaubte, dass man die anderen Teammitglieder wieder
motivieren könnte, wenn es eine Erklärung für die
Vorfälle gäbe, und drängte Dóra und Matthias,
sich eine Geschichte zurechtzulegen – eine Wanderung mit
schlechtem Ausgang, irgendeine natürliche Ursache für das
Verschwinden der beiden Männer. Wenn das nicht reichte, wollte
er den Mitarbeitern per Telegramm die Kündigung androhen. Am
Ende dieser merkwürdigen Mail standen die Telefonnummern und
E-Mail-Adressen aller Mitarbeiter, die sich weigerten, nach
Grönland zurückzukehren. Da es nicht viele waren, teilten
sich Dóra und Matthias die Arbeit auf. Dóra
würde die Leute abtelefonieren und Matthias denjenigen, die
sie nicht erreichte oder die nicht mit ihr reden wollten, eine Mail
schreiben.
»Mann, das ist ja eine
eingefleischte Truppe!« Dóra legte zum fünften
Mal den Hörer auf. »Als hätten sie sich
abgesprochen, kein Sterbenswörtchen zu
sagen.«
»Vielleicht haben sie sich
einen Anwalt genommen.« Matthias grinste. »Das
wäre natürlich fürchterlich!« Dóra gab
ihm nur einen leichten Stoß mit dem Ellbogen. Nach dem
gestrigen Abend durfte er sie ruhig ein bisschen aufziehen. Er
hatte nämlich versucht, im Fernsehen einen Nachrichtensender
zu finden, und zu seiner großen Freude einen deutschen Kanal
entdeckt. Allerdings musste er schnell feststellen, dass sich dort
ausschließlich splitternackte, junge
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