Die eisblaue Spur
für
einen Grund sollte ich denn haben, ihn zu hassen? Er hat mir nie
was getan.« Friðrikka drehte sich abrupt um und starrte
Eyjólfur ins Gesicht. »Wenn hier jemand irgendwen
gehasst hat, dann wart ihr das, verdammt! Ihr habt Oddný
Hildur gehasst, weil sie euch beim Chef verpetzt
hat.«
»Und du hast Arnar
gehasst, weil Oddný Hildur enttäuscht war, wie du dich
ihm gegenüber verhalten hast.« Eyjólfur biss die
Zähne zusammen, so dass seine Kiefermuskeln anschwollen und
sein knabenhaftes Gesicht viel reifer wirkte. »Außerdem
bin ich nicht verpetzt worden, nur damit das klar
ist.«
Dóra gähnte
unauffällig. Der Streit flaute erwartungsgemäß
langsam wieder ab. »Jetzt hört doch mal auf«,
sagte sie mit wenig Nachdruck.
»Ich lasse mir das nicht
länger bieten!«, bellte Friðrikka und schaute
Dóra unterstützungsheischend an. Wahrscheinlich hoffte
sie, in ihrer Geschlechtsgenossin eine Komplizin zu finden. Aber da
hatte sie sich geirrt.
»Du hast doch
angefangen«, entgegnete Dóra beiläufig. Sie hatte
schon wieder Hunger und beneidete Matthias, der im Sitzen neben ihr
eingeschlafen war. Der Arzt war auf dem besten Weg, es ihm
gleichzutun.
»Ja, aber ...« Die
Geologin hatte auf einmal keinen Wind mehr in den Segeln. Sie
schaute Dóra wütend an und beugte sich wieder über
den Tisch. »Halldór und Bjarki haben Oddný
Hildur gehasst. Das kann keiner bestreiten.«
»Himmel.«
Eyjólfur gaffte sie an. »Jetzt ziehst du auch noch
Leute in den Dreck, die sich nicht wehren können. Aber das ist
wohl dein Stil.«
»Was ändert es denn,
ob sie verschollen sind oder nicht?« Friðrikka setzte
sich wieder auf. Das Summen der Neonröhren wurde lauter, eine
Lampe fing an zu flackern – nicht gerade das Richtige zur
Beruhigung der gereizten Nerven. »Sie haben sie nach dieser
Sache total verabscheut, und wenn sie nicht verschwunden wäre,
hätten sie sie fertiggemacht. Versuch doch nicht immer, das
abzustreiten.«
»Oh, Mann.«
Eyjólfur schüttelte wütend den Kopf. »Ich
hab keine Lust mehr auf diesen Quatsch. Was weißt du denn,
was passiert wäre, wenn ...«
»Jetzt hört endlich
mit diesem verdammten Schwachsinn auf. Ich kotze gleich, wenn ich
euch noch länger zuhören muss.« Bella stand auf und
schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass die Patiencekarten
durch die Luft flogen. Eyjólfur und Friðrikka starrten
die wutschäumende Sekretärin verdutzt an. »Haltet
verdammt nochmal die Schnauze, wenn ihr nicht wie normale Leute
miteinander reden könnt.« Sie setzte sich
geräuschvoll wieder hin und schob die Karten zusammen. Dann
begann sie, eine neue Patience zu legen, so als sei nichts
geschehen.
Dóra grinste in sich
hinein. Wie sollte das eigentlich enden, wenn sie noch länger
hierbleiben müssten? Dann gäbe es garantiert noch weitere
Todesfälle. Sie schaute sich um und versuchte, sich
vorzustellen, wie es gewesen sein musste, im Camp zu arbeiten.
Wochenlang mit den Kollegen festzusitzen, nicht wegzukommen, mit
ihnen zusammenwohnen zu müssen, egal, wie man sich
fühlte. Wenn dann noch Unzufriedenheit aufkam, war das
zweifellos eine harte Erfahrung. Vielleicht stritten sich
Eyjólfur und Friðrikka nur aus alter Gewohnheit,
vielleicht kannten sie kein anderes Verhaltensmuster.
Draußen ging
plötzlich das Flutlicht an. Dóra stand auf und trat ans
Fenster, mehr wegen der Abwechslung als aus Neugier. Das Licht
hatte sich schon mehrmals eingeschaltet, weil die Polizisten in
regelmäßigen Abständen das Gelände
verließen und wieder zurückkamen. Dóra ging aber
davon aus, dass sie die übrigen Leichenteile suchten.
Vielleicht hatten sie auch im Dorf zu tun, jedenfalls würden
sie die junge Frau und den Sohn des Jägers bestimmt
verhören. Und den Jäger selbst natürlich. Vielleicht
suchten sie nach ihm. Dóra sah, wie ein Auto vor dem
Wohntrakt vorfuhr.
»Ich würde alles
für eine Tasse Kaffee geben.« Alvar strich mit dem
Finger über einen runden Fleck auf der Tischplatte. »Es
ist ja wohl das mindeste, dass man was zu trinken bekommt, wenn man
schon nicht helfen darf.«
»Soll ich mal fragen, ob
wir was kriegen?« Dóra wollte unbedingt aus dem
Zimmer, und wenn es nur für ein paar Minuten wäre. Die
frische Luft würde ihre Kräfte wieder aktivieren und ihr
helfen, den Abend zu überstehen. »Ich hätte auch
nichts gegen einen Kaffee.« Sie war froh, dass Matthias und
der Arzt schliefen, sonst wäre bestimmt einer von ihnen
gegangen. Langsam schlich Dóra zur Tür, um sie
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