Die eisblaue Spur
Männer aus
dem Camp in Frage. Die hatten das Grab
entfernt.
Der Jäger musste den
Schaden wiedergutmachen. Usinna musste an diesem Ort ihre letzte
Ruhe finden. Igimaqs Meinung war unwichtig – er hatte seinem
Vater ein Versprechen gegeben, und das durfte er nicht brechen. Als
er als junger Mann den Eid geschworen hatte, hätten weder er
noch sein Vater geglaubt, dass sein eigenes Kind einmal gegen die
Vorschriften verstoßen und seine Seele zu ewiger
Ruhelosigkeit verurteilen würde. Usinna war, wie ihr Bruder,
kinderlos. In seiner jetzigen Lage würde Naruana wohl auch
keine Kinder bekommen, so dass kaum Hoffnung für Usinnas Seele
bestand. Der einzige Ausweg für sie war, dass ihre Seele auf
das neugeborene Kind ihres Bruders überging. Doch bis dies
geschah, mussten ihre Knochen bei ihrer Seele ruhen, fern von den
Lebenden, denen sie großen Schaden zufügen und die sie
schlimmstenfalls in den Tod ziehen konnte. Igimaq wusste das sehr
gut; die Menschen mussten die herumirrenden Seelen fürchten.
Weder ein Schuss noch ein Kugelhagel konnte ihnen Einhalt gebieten.
Was schon tot war, könnte nicht mehr getötet
werden.
Aber Igimaq fürchtete sich
nicht vor dem Tod und verstand nicht, warum man ewig leben wollte.
Man musste weichen, um Platz für neues Leben zu schaffen, und
schon bald kam die Reihe an ihn. Er akzeptierte das zwar, wollte
aber dennoch darüber entscheiden, wie er starb. Er wollte so
sterben, wie er gelebt hatte – unter freiem Himmel mit dem
Gewehr in der Hand, im Einklang mit der Natur, die sich seines
Körpers annehmen würde, nachdem er den letzten Atemzug
getan hatte. Er wollte nicht mit der Angst sterben, dass das
Unbekannte auf ihn lauerte. Er musste Usinna zurück an diesen
Ort bringen. Und er wusste, wie er das bewerkstelligen würde.
Wenn es etwas gab, das der Jäger seit seiner Jugend
beherrschte, dann war es der Tausch von Waren. Die Leute im Camp
würden die Person, nach der sie suchten, im Tausch für
Usinnas sterbliche Reste bekommen oder für einen Hinweis, wo
diese zu finden waren.
Igimaq richtete seinen Blick auf
den Höhleneingang und schaute einen Moment lang in das
schwarze Loch, das ihn anstarrte wie das Maul eines Ungeheuers, das
in Schnee und Eis eingegraben war und versuchte, sich einen Weg
durch die kalte, weiße Hölle zu graben. Er machte auf
dem Absatz kehrt und ging zurück zum Schlitten. Die Hunde
spitzten die Ohren, das Gespann wurde von Unruhe ergriffen, Igimaq
sah, wie ein Hund nach dem anderen aufstand, und obwohl er wusste,
dass sie sich darauf freuten, loszurennen, konnte er den Gedanken
nicht abschütteln, dass sie vor etwas weglaufen wollten, das
aus der Höhle gekrochen war, als er sich umgedreht hatte, und
jetzt durch den Schnee auf ihn zuglitt. Er wusste nicht, wie Seelen
aussahen, und wollte es auch gar nicht wissen. Igimaq drehte sich
nicht um, behielt nur die Hunde im Auge und ging mit immer
größeren Schritten auf den Schlitten zu, der ihn von
hier wegbringen würde. Schnell und sicher.
»Du hast sie
gehasst.« Friðrikka saß am Konferenztisch und
beugte sich über die Tischplatte, die mit Kaffeeflecken
übersät war. »Gehasst!«
»Was hast du denn
für’n Problem?« Eyjólfur saß immer
noch mit ausgestreckten Beinen auf dem Fußboden und lehnte
sich an die Wand. Der Streit hatte sich von albernen Bemerkungen
ungewöhnlich schnell zu einer ernsten Auseinandersetzung
hochgeschaukelt. »Ich hab sie nicht gehasst. Du spinnst doch!
Ich hab sie kaum gekannt.« Der junge Mann starrte auf
Friðrikkas Rücken und hätte am liebsten etwas nach
ihr geworfen. »Und wenn wir schon von Hass sprechen, du hast
doch Arnar gehasst! Du kannst den Leuten hier wer weiß was
vorgaukeln, aber du hast ihn gehasst wie die
Pest!«
»Hör auf mit diesem
Unsinn!« Sie schrie das letzte Wort fast. »Warum sollte
ich ihn gehasst haben? Ich hatte Mitleid mit ihm. Ihr wart ekelhaft
zu ihm.«
»Ach, halt’s Maul.
Ich war zu niemandem ekelhaft. Du hast vielleicht nicht mitgemacht,
aber auch nichts dagegen unternommen, du hast nur zugeguckt und
gelacht, solange Oddný Hildur es nicht gesehen hat. Und wenn
sie in der Nähe war, hast du aufgepasst, nicht aus Versehen zu
grinsen.«
»Halt doch selbst dein
Maul! Ich hab nicht gelacht. Ich hab mich vielleicht nicht so darum
gekümmert wie Oddný Hildur, aber mitgemacht habe ich
auch nicht. Das ist Quatsch. Und es ist Schwachsinn, dass ich Arnar
gehasst haben soll. Du redest sowieso nur Schwachsinn. Was
Weitere Kostenlose Bücher