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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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nicht zu
wecken, und trat dann vorsichtig in den Flur. Dort atmete sie tief
durch, froh, den stickigen Konferenzraum verlassen zu haben. Erst,
als sie draußen auf der Treppe stand, bekamen ihre Lungen den
langersehnten Sauerstoff. Sie blieb eine Weile stehen und genoss
das Gefühl, die kalte Luft einzuatmen. Als sie um Ecke ging,
erschrak sie so sehr, dass die soeben gesammelte Energie in der
Kälte verpuffte. Unter dem Giebel stand der Jäger.
Dóra hätte ihn gar nicht bemerkt, wenn er sie nicht
leise angesprochen hätte. Er stand hinter einem Schneehaufen,
der sich an der Hauswand auftürmte. Wahrscheinlich hatte er
eine gute Gelegenheit abgewartet und sich ins Camp geschlichen, als
der Polizeiwagen vor das Flutlicht gefahren war.
    Der Mann war zwar nicht
unsichtbar, schien sich aber auf unerklärliche Weise seiner
Umgebung anzupassen, so dass man ihn nicht sah, wenn man nicht
gezielt nach ihm Ausschau hielt. Vielleicht, weil er völlig
reglos war. »Die Polizei sucht Sie wahrscheinlich.«
Dóras Stimme war schrill, obwohl sie das nicht
wollte.
    »Wir suchen alle
irgendetwas. Ich suche auch – aber nicht mich selbst.«
Der Mann bewegte sich nicht. »Ich suche meine Tochter. Die
Leute aus dem Camp haben sie geholt. Ich muss wissen, wo sie ihre
letzte Ruhe gefunden hat.«
    Von allem, was er hätte
fragen könne, war dies das Schlimmste. Dóra bekam einen
Kloß im Hals. »Ich habe sie nicht«, war das
Einzige, was ihr
einfiel.         
    »Wir können tauschen.
Ich weiß, dass ihr jemanden sucht. Ihr bekommt die Frau im
Tausch. Ich weiß, dass ihr meine Tochter geholt habt. Ihr
habt die Piste gelegt. Ich tausche mit euch.« Der Mann schien
es ernst zu meinen. Er packte das Gewehr, das er an der Hüfte
trug. Dóra hatte die Waffe noch gar nicht bemerkt und wurde
noch nervöser.
    »Sie haben die Frau, die
aus dem Camp verschwunden ist?« Dóra versuchte, sich
vorzustellen, wie lange die Polizei brauchen würde, um ihr zu
Hilfe zu kommen, wenn sie aus vollem Hals losschreien würde.
»Lebt sie noch?«
    »Nein.« Der
Jäger kniff die Augen zusammen. »Und meine Tochter auch
nicht. Das ist ein fairer Tausch.«
    Dóra musste den Mann
unbedingt etwas fragen, auch wenn er ein Gewehr hatte und keine
Hilfe in Sicht war. »Haben ... haben Sie die beiden
Männer zerteilt?«
    Der Jäger wirkte ehrlich
erstaunt. »Nein. Ich weiß nicht, was Sie meinen. Wollen
Sie mit mir tauschen oder nicht?«
    »Ich kann es nicht«,
antwortete Dóra. »Die Polizei hat die Knochen Ihrer
Tochter. Sie bekommen sie auf jeden Fall zurück, aber nicht
sofort.«
    »Wann dann?«
Irgendwo in der Ferne war ein Jaulen zu hören. Erst von einem
Hund, dann von mehreren. »Ich muss sie
haben.«
    Dóra versuchte, logisch
zu denken. »Ich verspreche Ihnen, dass Sie sie
zurückbekommen. Es ist nur im Moment nicht möglich. Die
Polizei hat die Knochen hier gefunden. Das Grab war genau dort, wo
die Piste gelegt wurde. Es gab keine andere Möglichkeit, als
es zu entfernen. Man hat versucht, die Dorfbewohner danach zu
fragen. Wenn Sie mit den Arbeitern gesprochen hätten,
wären Ihnen die Knochen bestimmt übergeben worden.«
Sie holte tief Luft. »Das müssen Sie mir glauben und die
Leiche der Frau zurückgeben. Das ist sehr wichtig für
uns. Ihr Mann in Island muss wissen, was passiert ist.« Sie
bereute den letzten Satz sofort wieder. Falls der Jäger die
Frau umgebracht hatte, war es nicht sehr geschickt, darüber zu
reden, dass sie den Mord aufdecken wollte. »Er hat ein
Anrecht darauf, nicht länger mit der Hoffnung leben zu
müssen, dass sie noch lebt.«
    »Hoffnung ist oft besser
als Gewissheit.« Der Jäger wurde plötzlich wachsam.
Er schien etwas zu hören, das Dóra gar nicht wahrnahm.
Er schaute sie an und nickte. »Sie wird gleich hinter dem
Haus liegen. Gehen Sie rein und kommen Sie in einer halben Stunde
wieder. Holen Sie erst die Polizei, wenn ich wieder weg bin, und
sagen Sie ihnen nicht, dass ich hier war.« Er merkte, dass
Dóra mit diesen Bedingungen Probleme hatte. »Sonst
wird nichts daraus. Und ich muss Usinnas Knochen so schnell wie
möglich haben.«
    »Gut.
Einverstanden.« Dóra spürte, wie ihr das Herz bis
zum Hals schlug. »Ich gehe ... ich gehe jetzt.« Der
Mann nickte stumm. Dóra drehte sich um und rannte
zurück zum Bürogebäude. Dort stand sie lange im
Vorraum und versuchte, wieder zu sich zu kommen. Wenn sie das den
anderen erzählte, würde die Polizei es sofort erfahren.
Matthias war der Einzige, dem sie vertrauen

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