Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
Vom Netzwerk:
ein paar Schritte in die Richtung, wo
es gewesen war. Er brauchte keine Markierungen. Er kannte die
Stelle und würde sie nie vergessen. Er brauchte nur die
flachen Felsen auf beiden Seiten zu sehen, um genau dort zu landen,
wo Usinna geruht hatte. Dort blieb er stehen und starrte auf seine
Füße. Wann war diese Piste gelegt worden? Er war noch
vor ein paar Monaten hier gewesen, um sich mit eigenen Augen davon
zu überzeugen, dass die Männer aus dem Camp sich von dem
Gebiet fernhielten. Als er den Schlitten gewendet hatte, war er
erleichtert gewesen, nicht nur, weil er diesen Ort, an dem er sich
unwohl fühlte, hinter sich lassen konnte, sondern auch, weil
er fälschlicherweise glaubte, dass sein Jugendfreund Sikki
Wort gehalten hatte. Igimaq reagierte genauso wie andere Menschen
– er glaubte das, was er glauben wollte. Damals hatte er sich
darüber gefreut, dass er auch etwas dazu beigetragen hatte,
dass das Gebiet noch menschenleer war. Er hatte die Maschinen, die
aus einem ungefährlicheren Gebiet hierhergebracht werden
sollten, beschädigt – und das hatte die Männer
womöglich abgeschreckt.
    Das Jaulen der Hunde wurde
stärker, und Igimaq hörte, dass ein anderer, menschlicher
Laut hinzukam. Das flehende Weinen rastloser Seelen, die schon
länger als ein Menschenleben darauf warteten, aus den Fesseln
des Landes befreit zu werden. Sie wollten mit den Vögeln
über den Himmel fliegen, das Land von oben betrachten, nicht
von innen, wo ewige Dunkelheit herrschte wie in den
Winternächten des hohen Nordens. Tief im Berg gab es keinen
Mond und keine Sterne, die die Dunkelheit erträglicher
machten. Vielleicht war es auch nur eine Seele, die weinte, eine
Seele, die ihm näher stand als andere. Er musste hier weg. Das
Weinen war der flehenden Stimme seiner Tochter erschreckend
ähnlich, als sie vor den Augen ihres Vaters und ihres Bruders
ihr Ende gefunden hatte. Zu zweit hatten sie genau an dieser Stelle
gestanden und versucht, ihr Flehen zu überhören und sie
nicht spüren zu lassen, dass sie kurz davor waren, aufzugeben
und ihr eine helfende Hand zu reichen. Igimaq bereute es nicht,
tatenlos in sicherer Entfernung gestanden zu haben. Als Sikki von
ihm verlangt hatte, etwas zu tun, war es für ihn undenkbar
gewesen, im Schutz der Dunkelheit gegen sein eigenes Kind
vorzugehen. Dabei wäre das durchaus machbar gewesen. Es gab
genug Felsen, hinter denen man sich verstecken konnte, aber sein
Stolz hatte ihm verboten, von einem Versteck aus zuzuschauen. Er
musste seine Pflicht gegenüber den Vorvätern und
denjenigen, die Rache für ihren eigenen Tod suchten,
erfüllen. Wenn Igimaq aufgegeben hätte, hätte er
noch Schlimmeres über sich und das Dorf gebracht. Er
hätte seiner Tochter nicht helfen können. Sie hatte die
Zeichen getragen und war dem Tode geweiht gewesen. Sie hätte
ihn und Naruana nur mit sich in den Tod gerissen. Die Botschaft war
eindeutig. Diejenigen, die vom Tod gezeichnet waren, mussten
sterben, und zwar allein und ohne Trost, denn wer versuchte, ihnen
den Tod zu erleichtern, den traf dasselbe Schicksal. Und hier
wollte Igimaq auf keinen Fall sterben.
    Es war völlig windstill,
und die Hunde waren verstummt. Igimaq konnte jedes Geräusch
hören. Die Stille an diesem Ort war vielschichtig, anders als
die Stille bei seinem Zelt. Die Gabe, Dinge erspüren zu
können, die andere gar nicht wahrnahmen, starb langsam aus. So
wie das Eis dünner wurde, verschwand das Wissen, das seit
Jahrhunderten im Land verbreitet gewesen war. Und eines Tages, wenn
es Igimaq und seine Generation nicht mehr gab, wäre das Wissen
verschwunden, so wie das Eis. Die Stille forderte ihn auf zu gehen,
nicht länger als nötig zu verharren. Sie sagte ihm, dass
die Hunde auf seine Befehle warteten, dass sie langsam unruhig
wurden und seine Pläne anzweifelten. Sie wollten weiter in die
Ödnis hinaus, immer weiterrennen, bis nichts mehr wichtig war
außer dem Horizont. Igimaq atmete heftig durch die Nase ein
und betrachtete die schneebedeckte Spur unter seinen
Füßen. Er würde später herausfinden, was
zuerst passiert war, ob das Grab entfernt oder die Piste gelegt
worden war – oder beides gleichzeitig. Eigentlich spielte es
keine Rolle. Das, was nicht geschehen durfte, war geschehen. Usinna
war nicht mehr an ihrem Ruheplatz, wo sie hatte liegen sollen, bis
nichts mehr von ihr übrig wäre. Aber hier war nicht die
Polizei am Werk gewesen; das machte die Sache etwas besser. Die
Piste war schon älter, und es kamen nur die

Weitere Kostenlose Bücher