Die eisblaue Spur
nichts
schaden, einen kleinen Wissensvorsprung vor der Polizei zu
haben.
Eine wohlbekannte Stimme
verkündete, der gewünschte Teilnehmer sei
vorübergehend nicht zu erreichen. Daher blieb Arnar nichts
anderes übrig, als ein Telefonat zu führen, vor dem er
große Angst hatte. Er hatte gehofft, dass es nie stattfinden
würde.
Der Kampf um einen Fensterplatz
war so hart, dass sich Dóra richtig ins Zeug legen musste,
um nicht vertrieben zu werden. Sie stand zwischen Matthias und
Finnbogi in der ersten Reihe. Friðrikka und Eyjólfur
standen rechts und links neben ihnen und mussten die Hälse
recken, um etwas sehen zu können, während Bella und Alvar
gezwungen waren, den anderen über die Schultern zu schauen.
Der Polizeitrupp war damit beschäftigt, die Leiche im Schnee
abzulichten, zu vermessen und die nähere Umgebung zu
untersuchen. Die Männer hatten die Zuschauer schon längst
bemerkt, aber nachdem sie zweimal versucht hatten, sie durch
Handbewegungen zu vertreiben, ließen sie sie in
Ruhe.
»Ich kapiere das
nicht.« Eyjólfur klang wie eine Platte, die
hängengeblieben war. Er hatte sich schon so oft wiederholt,
dass Dóra nicht mehr mitzählte. »Arnar war nicht
hier. Er ist doch mit den anderen nach Hause
gefahren.«
»Dann muss er wohl wieder
zurückgekommen sein und seine Kollegen zerhackt haben«,
sagte Bella. Dóra spürte ihren Atem am Ohr. »Das
waren doch die Typen, die ihn gemobbt haben.«
Eyjólfur war irritiert,
dass endlich jemand auf ihn einging. »Nein, ich meine, ja,
aber das kann doch nicht sein.«
»Vielleicht ist es ja gar
nicht Arnar«, warf Alvar ein. »Er liegt auf dem Bauch,
viel erkennen kann man nicht. Mir ist nicht ganz klar, warum du dir
so sicher bist.«
»Es kommt sonst niemand in
Frage. Arnar war der Einzige, der so eine Mütze und solche
Stiefel hatte.« Eyjólfur zeigte auf die zotteligen,
kniehohen Fellstiefel. Aus Rücksicht auf den Toten sagte
niemand etwas, aber alle dachten dasselbe: Diese Stiefel waren
geradezu eine Aufforderung zum Lästern. Die Mütze war im
selben Stil, voluminös und unübersehbar.
Der Fotograf hockte sich neben
die Leiche, zog seine dicken Fäustlinge aus und
Gummihandschuhe an. Dann schob er die Mütze mit einer Zange
von Hals und Hinterkopf. Das Blitzlicht der Kamera blendete die
Zuschauer im Fenster einen Moment, aber dann sahen sie, was sich
unter der Mütze verbarg.
»Dieser Mann ist
jedenfalls nicht an einer Krankheit gestorben.« Der Arzt war
der Einzige, der nicht die Luft anhielt, als er die große
Beule am Hinterkopf der Leiche sah. Auf der weißen
Pelzmütze war ein großer, schwarzer Fleck, und das
Kaninchenfell schien an der Wunde festgeklebt oder festgefroren zu
sein. Man konnte nicht erkennen, ob die Fasern zwischen Kopf und
Mütze aus Menschenhaar oder Fell bestanden.
Dóra hörte
Friðrikkas hektisches Atmen und verfluchte sich und Matthias
dafür, sie nicht zurück ins Konferenzzimmer geschickt zu
haben. Matthias war zwar dadurch entschuldigt, dass er gerade erst
aufgewacht war, aber Dóra hätte es besser wissen
müssen. Sie musterte die Geologin, der das rote Haar ins
Gesicht gefallen war. Ihr Kopf war auf die Brust gesunken und
zuckte unkontrolliert, so als ob sie gleich zusammenbrechen
würde. »Friðrikka? Vielleicht solltest du vom
Fenster weggehen und dich hinsetzen. Es könnte noch ...
schlimmer werden.«
Plötzlich fing
Friðrikka an zu schluchzen, griff nach der Gardine und
versuchte, sie zuzuziehen, aber weil sie eher nach unten als zur
Seite zog, zerbrach ein Gardinenring. »Macht die Gardinen zu!
Macht die Gardinen zu!«, rief Friðrikka heiser.
»Ich kann das nicht sehen.«
»Dann hör auf
Dóra und geh vom Fenster weg. Wir wollen das nämlich
sehen«, sagte Bella, die auf einen besseren Platz
lauerte.
Eyjólfur klebte an der
Fensterscheibe und murmelte ununterbrochen: »Shit, shit,
shit.«
»Was ist los?«
Matthias packte den jungen Mann an der Schulter und zog ihn vom
Fenster weg.
»Das ist nicht Arnar. Er
hat nicht so lange Haare und ist außerdem blond.«
Eyjólfur atmete kräftig aus.
Friðrikka heulte auf.
»Es ist Oddný Hildur«, stammelte sie und brach
in hemmungsloses Weinen aus.
»Bitte entschuldigen Sie
die Unannehmlichkeiten, aber unter diesen Umständen mussten
wir Sie hier festhalten«, sagte der grönländische
Ermittlungsleiter zu der Gruppe. »Ich sehe keinen Grund, dies
noch länger zu tun. Sie waren sehr hilfsbereit und haben die
Ermittlungen so gut Sie konnten unterstützt.« Alle
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