Die eisblaue Spur
Andenkenladen. »Wie weit ist
es?« Zu allem Überfluss hatte Dóra nicht nur
einen Kater, sondern ihr Hintern war auch noch eingeschlafen, woran
der Hubschraubersitz nicht ganz unschuldig war. Der Hersteller
hatte wohl nicht nur bei der Anzahl der Rotorblätter
gespart.
»Es ist nicht weit«,
sagte Alvar, der unansehnliche Rettungsmann, der am Steuer
saß. »Laut GPS nur noch zehn
Kilometer.«
Zwanzig Minuten später
tauchte das Camp vor ihnen auf. Die flachen, dunkelgrünen
Häuser waren in der hereinbrechenden Dunkelheit schlecht zu
erkennen. Der Wagen fuhr im Zeitlupentempo durch eine weitere
Schneewehe, und alle musterten die Gebäude.
»Wenn jemand hier
wäre, müsste doch Licht brennen, oder?«, sagte der
IT-Mann. »So war das jedenfalls immer, wenn ich hier war. Ich
kann mich nicht erinnern, dass das Camp jemals im Dunkeln gelegen
hat.«
Niemand sagte etwas, aber alle
dachten das Gleiche. Das Camp war wie ausgestorben.
5.
Kapitel
19. März 2008
Menschenleere Orte haben etwas
Unheimliches, Beklemmendes, das schwer zu beschreiben ist. Auf
mysteriöse Weise bleibt niemandem verborgen, dass diejenigen,
die den Ort verlassen haben, nicht mehr zurückkehren werden.
Dóra war wegen Nachlassangelegenheiten ein paarmal in den
Wohnungen von Verstorbenen gewesen und hatte sich dabei immer
unwohl gefühlt. Vielleicht lag es an den Gegenständen,
die nie mehr einen Ehrenplatz bekommen würden, oder an der
aufgeschlagenen Zeitung, die nie zu Ende gelesen würde. Hier
wurde Dóra von demselben Gefühl gepackt; das Camp war
menschenleer, aber in jeder Ecke gab es menschliche Spuren. Sie
fühlte sich an einen Dokumentarfilm über Tschernobyl
erinnert, den sie vor ein paar Jahren gesehen hatte. Darin wurde
gezeigt, wie es aussah, wenn eine ganze Gemeinde plötzlich
ihre Häuser und Arbeitsplätze verlassen hatte. Aber der
Unterschied war, dass es im Camp eigentlich noch Leute geben
musste. In Tschernobyl waren sie weggezogen. Hier waren die beiden
Arbeiter wie vom Erdboden verschluckt.
Man konnte hören, dass die
Computer in den Büros noch liefen; die Schreibtische zeugten
davon, dass die Mitarbeiter sie verlassen hatten, ohne zu ahnen,
dass sie nicht mehr zurückkehren würden. Halbvolle
Kaffeetassen standen herum, und über einigen Stühlen
hingen Pullover. Alles war still, bis auf das Summen der Computer
und das anhaltende Piepen des Rauchmelders im Raucherzimmer. Mit
Friðrikkas Hilfe fanden sie den Raum. Dort brannte allerdings
kein Feuer, sondern das Fenster stand einen Spalt offen, und der
Raum hatte sich mit Schnee gefüllt. Die Geologin
erklärte, das Sicherheitssystem sei sehr empfindlich.
Friðrikka wunderte sich nur darüber, dass niemand den
unangenehmen Piepton ausgeschaltet hatte – es wäre kein
Problem gewesen, das System neu zu starten. Der Alarm musste erst
losgegangen sein, als die Männer schon nicht mehr im Camp
gewesen waren. Laut Friðrikka waren sie beide Raucher und
hatten das Fenster womöglich nach ihrer letzten Zigarette
offen stehen lassen. Bella regte sich über den mit Schnee
gefüllten Raum auf, da es nun im Bürogebäude nicht
mehr möglich war, zu rauchen, aber sie beruhigte sich ein
wenig, als Friðrikka ihr sagte, es gebe noch einen kleinen
Raucherraum im Aufenthalts- und Wohntrakt. Bella durfte jedoch
nicht alleine hinübergehen, bevor im Bürogebäude
alles überprüft worden war, was die Sekretärin
erneut aufregte. »Dann muss ich eben draußen in dieser
Scheißtundra rauchen«, nuschelte sie und zog ihren
Anorak an.
»Ich weiß nicht, ob
es ratsam ist, alleine rauszugehen«, sagte der Arzt mit
ernster Miene. »Wir wissen nicht, was hier passiert ist. Da
draußen könnte es Eisbären geben.« Bella
kümmerte sich nicht um seine Warnung und zog sich weiter an.
»Abgesehen davon, dass Rauchen ungesund ist«,
fügte der Arzt hinzu.
Bella erstarrte mitten im
Reißverschlusszuziehen. Ihr Gesicht war keineswegs
ängstlich, sondern wütend. Empört musterte sie den
Arzt. »Darf ich drinnen rauchen?« Als keine Antwort
kam, bückte sie sich und zog den zweiten Schuh an.
»Scheinbar nicht. Entweder ich rauche hier oder ich gehe
raus.« Dóra, Matthias, Friðrikka und der Arzt
beobachteten schweigend, wie sie sich zu Ende anzog und dann mit
beleidigtem Gesicht hinausstolzierte.
»Ich mache mir mehr Sorgen
um den Eisbären, falls sie einem begegnet«, sagte
Dóra, als die Tür ins Schloss fiel.
Sie kontrollierten weiter die
Büros, und nachdem sie in alle Räume einen Blick
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